Preußische Kulturgeschichte
Wenn die Hoch- und Staatskultur als repräsentativ für eine allgemeine preußische Kulturgeschichte genommen wird, dann ist diese in Preußen durch unterschiedliche Phasen von Blüte und Stagnation gekennzeichnet. Insgesamt gehört Preußen aber vor allem in den Anfängen seiner Geschichte im 17. Jahrhundert vergleichsweise eher zu den kulturellen Wüstengebieten in Mitteleuropa. Zwar verfügen durchaus bereits die Mark Brandenburg sowie Ostpreußen als die zwei Kerngebiete des brandenburg-preußischen Staates des 17. Jahrhunderts über eine eigenständige, regionale Kulturgeschichte, die in diesem Rahmen durchaus Sehenswertes hervorbringt, etwa die Zisterzienser-Klosterarchitektur in Brandenburg mit Zinna, Lehnin und Chorin oder das faszinierende Ensemble der Marienburg an der Nogat in Westpreußen als Residenz des Deutschen Ordens. Auch in der Geistesgeschichte weisen beide Territorien bereits im 16. Jahrhundert herausragende Einrichtungen auf, die mit den Universitätsgründungen in Frankfurt an der Oder 1506 als brandenburgische Landesuniversität sowie der 1544 gegründeten Universität Königsberg für das Herzogtum Preußen durchaus überregionale Bedeutung erlangen.
Doch noch lange Zeit im 17. Jahrhundert, als die Verschmelzung der Kernregion der Mark Brandenburg mit den beiden territorialen Außenposten im Westen mit Kleve, Mark und Ravensberg sowie im Osten mit Ostpreußen staatsrechtlich längst vollzogen ist, stellt die entstehende deutsche Mittelmacht kulturell eher ein Territorium mit wenigen herausragenden Leistungen dar. Dazu gehört die vom kurbrandenburgischen Statthalter in Kleve, Fürst Johann Moritz von Nassau-Siegen (1604-79), in den 1650er Jahren angelegte Gartenstadt Kleve, der erste deutsche Versuch einer landschaftsformenden Parkschöpfung nach niederländischem Vorbild, mit dem die aufsteigende Territorialgewalt ihren Herrschaftsanspruch im Westen des Reiches unter Beweis stellen will. Nach dem Dreißigjährigen Krieg veranlasst der Große Kurfürst den Ausbau der Berlin- Potsdamer Residenz- und Kulturlandschaft, die aber erst ganz allmählich zu einer der herausragendsten Herrschaftslandschaften der Welt werden soll. Von nachhaltiger Bedeutung für die kulturelle Entwicklung der „ Streusandbüchse des Heiligen Römischen Reiches“ ist die Aufnahme französischer Hugenotten in Brandenburg-Preußen. Zwar werden sie in erster Linie aus Gründen der wirtschaftlichen Wiederbelebung des kriegszerstörten Landes in den Hohenzollern-Staat geholt, doch wirkt sich das französische Ferment nicht nur auf die Sprachentwicklung in Berlin, sondern durch zahlreiche bedeutende Künstler und Intellektuelle wie etwa den Akademiesekretär Jean Henri Samuel Formey, die Schriftsteller- und Beamtenfamilie der Ancillons, die Gelehrtenfamlie der Ermans, die beiden Baumeister David und Friedrich Gilly bis hin zu dem Hugenottennachfahren Theodor Fontane auch befruchtend auf die kulturelle Entwicklung Preußens aus.
Obgleich bereits unter dem Großen Kurfürsten eine systematische Kunst- und kulturelle Sammlungspolitik einsetzt, beginnt Preußen erst während der Herrschaftszeit des ansonsten in der Historiographie weniger gut wegkommenden Friedrich I. (1657-1713), auch kulturell an Bedeutung zu gewinnen. Nicht zuletzt um den eigenen Herrschaftsanspruch zu betonen versucht der eben zum ersten König in Preußen gekrönte Friedrich I. einen systematischen Ausbau der kulturellen Ausstrahlungskraft Preußens zu erreichen. Unter ihm beginnt der kulturelle Aufstieg Preußens, das auf diesem Gebiet noch im 18. Jahrhundert das bis dahin führende Kursachsen in der kulturellen Hegemonie Norddeutschlands abzulösen beginnt.
Aufschlussreich ist dabei die Liste der an den preußischen Hof nach Berlin gezogenen Intellektuellen und Wissenschaftler, die auffälligerweise häufig zu den andernorts als Neuerer des Denkens verfemten Gelehrten gehören und die hier nur in einer die wichtigsten Persönlichkeiten erfassenden Auswahl präsentiert werden können: 1686 kommt noch zu Herrschaftszeiten des Großen Kurfürsten Samuel Pufendorf (1632-1694) aus Stockholm als brandenburgischer Hofhistoriograph nach Berlin, immerhin der Begründer der deutschen Naturrechtslehre sowie der bedeutendste Staats- und Völkerrechtslehrer im Zeitalter der Frühaufklärung in Deutschland. Im Jahr 1690 gehört der aus Leipzig kommende Philosoph Christian Thomasius (1655-1728) zu den geistigen Gründungsvätern der 1690-94 etablierten Universität Halle, die nicht nur die zentrale Universität für den preußischen Staat und dessen Bedarf an fähigen, juristisch ausgebildeten Landesbeamten werden soll, sondern auch zu den fortschrittlichsten Universitäten des Aufklärungszeitalters in Deutschland überhaupt gehören wird.
1707 erhält mit Christian Wolff (1679-1754), der aus Leipzig vertrieben wird, ein noch wichtigerer Philosoph als Nachfolger von Thomasius einen Lehrstuhl an der Universität in Halle. 1691 siedelt der pietistische Prediger und Theologe Philipp Jakob Spener (1635-1705) aus Dresden nach Berlin über, der mit seinem Reformprogramm für eine pietistische Überwindung des orthodoxen Luthertums sorgt. 1692 kommt der Gelehrte, Hofbeamte und erste Kanzler der neu gegründeten Universität Halle, Veit Ludwig von Seckendorff (1626-92) aus Altenburg, im selben Jahr der Spener-Schüler und evangelisch-pietistische Theologe und Pädagoge August Hermann Francke (1663-1727) aus Leipzig, um in Halle seit 1698 mit den Franckeschen Stiftungen eine vorbildliche Einrichtung zur Erziehung und Ausbildung von Jungen und (revolutionär für diese Zeit) auch Mädchen zu etablieren.
1694 siedelt aus Warschau mit dem gebürtigen Danziger Andreas Schlüter(um 1660-1714) der wohl bedeutendste deutsche Architekt der Jahrhundertwende um 1700 nach Berlin über, um hier nicht zuletzt am Ausbau der preußischen Residenz und Hauptstadt Berlin sowie Potsdams zu arbeiten. Mit dem angesichts der politischen und wirtschaftlichen Stärke Preußens zu diesem Zeitpunkt reichlich überdimensionierten Bau des Berliner Stadtschlosses als einem der bedeutendsten Bauten seiner Art nördlich der Alpen im Zeitalter des Barock setzt er über die Grenzen des jungen Königreiches hinaus ein erstes kulturgeschichtliches Zeichen. Im selben Jahr zieht es den bedeutenden Chemiker und Arzt und späteren Leibarzt des Soldatenkönigs Georg Ernst Stahl (1660-1734) aus Hannover nach Preußen. Im Jahr 1700 gelingt es, eines der größten Universalgenies seiner Zeit, den Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) aus Hannover an den preußischen Hof und für die Konzeption einer zeitgemäßen Preußischen Akademie der Wissenschaften zu gewinnen, die für die preußisch-deutsche Wissenschaftsgeschichte extrem wichtig und zu einer der großen europäischen Akademien avancieren wird.
Einige dieser kulturellen Einrichtungen des frühen Königreiches Preußen werden auf Anregung der Gattin des ersten Preußenkönigs, der aus Hannover stammenden Sophie Charlotte (1668-1705) ins Leben gerufen. Sie ist, wohl im Gegensatz zu ihrem Mann, auch über das staatliche Repräsentationsbedürfnis hinaus an Kunst und Kultur interessiert und errichtet in ihrem Charlottenburger Schloss mit einem ambitionierten Hoftheater sowie einer anregenden Musikkultur mit Komponisten wie Giuseppe Torelli (1658-1709) einen ersten preußischen Musensitz.
Der Machtantritt des Soldatenkönigs Friedrich Wilhelm I. (1688-1740) bedeutet für die Kultur und Kunstförderung in Preußen insgesamt einen heftigen Einbruch. Aufgrund der völligen Überschuldung der jungen Monarchie durch seinen Vater reduziert der einseitig auf das wirtschaftliche „Plusmachen“ sowie die militärische Ertüchtigung seines Staates orientierte Hohenzollernkönig alle aus seiner Sicht unnötigen Einrichtungen in den Bereichen von Kunst und Kultur. Dagegen fördert der Soldatenkönig andere, für das wirtschaftliche Fortkommen des Staates wichtige wissenschaftliche Einrichtungen wie z.B. 1727 den ersten deutschen Universitätslehrstuhl für Wirtschaftswissenschaft durchaus.
Markiert die Herrschaft des Soldatenkönigs einen Höhepunkt der militärischen und innerstaatlichen Entwicklung Preußens hin zu Großmacht, so stellt die Regierungszeit seines Sohnes Friedrich II.(1712-86) neben allen anderen Erfolgen gerade auch in kulturgeschichtlicher Hinsicht eine absolute Blütezeit dar. Selbst durch unbarmherzige Prügelorgien und öffentliche Demütigungen ist es seinem Vater Friedrich Wilhelm I., dem Soldatenkönig, nicht gelungen, die musisch-künstlerischen Neigungen seinem Sohn auszutreiben. Dieser ist, zumindest was eine Seite seiner komplexen Persönlichkeit betrifft, ein ausgesprochen künstlerisch-intellektueller Kopf, der neben seinem Herrscheramt als Musiker, Philosoph und Schriftsteller glänzt und unter den gekrönten Häuptern seiner Zeit eine absolute Ausnahme darstellt. Der König selbst sorgt mit einer Ausweitung der Förderung von Kultur und Wissenschaft wieder für wichtige Impulse in diesem Bereich, die unter seinem Vater beinahe vollständig brachlagen. Schon in seiner Kronprinzenzeit in Rheinsberg sammelte er einen Kreis von Musikern und Philosophen um sich, um dann auch als Herrscher auf dem preußischen Thron seit 1740 aktive Kulturpolitik zu betreiben. Er sorgt im Bereich der Musik dafür, dass mit dem bereits in Rheinsberg aufgebauten Hoforchester die Anfänge für die heutige Staatskapelle gelegt werden und Musiker wie die Gebrüder Graun, Carl Philipp Emanuel Bach (1714-88) oder die Brüder Benda sowie sein Flötenlehrer Johann Joachim Quantz (1697-1773) für eine eigenständige Berliner Musikschule sorgen, die einen wichtigen Platz innerhalb der Musikgeschichte der Frühklassik in Deutschland einnimmt. Mit dem Bau der Staatsoper unter den Linden (1741-43) durch seinen bevorzugten Architekten, den aus der Neumark stammenden Wenzeslaus von Knobelsdorff (1699-1753) erhält die preußische Hauptstadt den ersten separaten Opernbau im Reich, der vom Schloss gelöst frei in die Stadt gestellt und schon dadurch als öffentlicher Besitz gekennzeichnet ist.
Friedrich lässt durch Knobelsdorff seine Residenzen Berlin und Potsdam ausbauen. Insbesondere in der Nebenresidenz Potsdam, die bald Friedrichs Lieblingsaufenthaltsort darstellt, entsteht mit der königlichen „Vorstadt“ von Sanssouci mit dem gleichnamigen Schloss sowie dem Neuen Palais seit 1745 ein einzigartiges Residenzensemble, das durch den Ausbau seiner Nachfolger in den folgenden eineinhalb Jahrhunderten zu einem der Kulturjuwele der Menschheitsgeschichte ausgebaut wird und deshalb heute zum Weltkulturerbe der UNESCO zählt. Auch in der Wissenschafts- und Philosophieförderung vollzieht Friedrich II. wichtige Schritte, allerdings wie in seiner gesamten Kulturpolitik durch die einseitige Förderung von französischen Intellektuellen. Die preußische Akademie der Wissenschaften wird wieder großzügig mit Mitteln und Aufgaben ausgestattet und mit dem französischen Philosophen Voltaire (1694-1778) lebt für einige Jahre einer der bedeutendsten Aufklärungsphilosophen der damaligen Zeit am preußischen Hof.
Neben dieser quasi von Staats wegen geförderten offiziellen Kultur existiert aber gerade unter Friedrich II. wegen dessen einseitiger Orientierung auf die französische Kultur eine eigenständige „deutsche“ Kultur, die der Preußenkönig nicht wahrnimmt oder unterschätzt. So stellt Berlin bereits seit den 1750er Jahren das Zentrum der deutschen Aufklärung dar, in dem der junge Gotthold Ephraim Lessing (1729-81), der Verleger und Autor Friedrich Nicolai (1733-1811) sowie der jüdische Aufklärungsphilosoph Moses Mendelssohn (1729-86) wirken, ohne von Friedrich wahrgenommen, anerkannt noch gar hinreichend gefördert zu werden. Auch dass im fernen Ostpreußen an der Universität Königsberg mit Immanuel Kant (1724-1804) einer der genialsten Philosophen der gesamten Menschheitsgeschichte seit den 1770er Jahren sein philosophisches System der menschlichen Erkenntnismöglichkeiten entwickelt und die wichtigsten seiner Werke eines kritischen Idealismus der erstaunten Öffentlichkeit vorlegt, entzieht sich dem Horizont des Philosophen auf dem Preußenthron.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts hat Preußen aufgrund seiner machtpolitischen Entwicklung im 18. Jahrhundert sowie der inzwischen erreichten kulturellen Leuchtkraft seine Konkurrenten in Deutschland bis auf Österreich auf beiden Feldern hinter sich gelassen, nur noch Wien konkurriert mit der Hauptstadt Berlin. „Spree-Athen“ ist dabei inzwischen das eindeutige kulturelle Zentrum der preußischen Monarchie, auch für die neuen Kunstrichtungen von Klassizismus, Neugotik und der Romantik. Berlin avanciert zur nach Leipzig wichtigsten deutschen Stadt im Bereich der Buchproduktion und überholt die alte Messestadt im 20. Jahrhundert in diesem Bereich sogar. Die preußische Hauptstadt verfügt über eine ausgeprägte und ausgewiesene Salonkultur. In den Salons insbesondere jüdischer Salonièren, die sich an die ständische Gliederung der Gesellschaft nicht gebunden und sich im Sinne der Aufklärung gleichberechtigt fühlen, wie Rahel Varnhagen von Ense (1771-1833) oder Henriette Herz (1764-1847) verkehren die wichtigsten Geistesgrößen des romantischen Berlin zur gehobenen Konversation und zum geistigen Austausch. Diese literarisch-geselligen Salons erfüllen eine große kulturgeschichtliche Aufgabe, indem sie Austauschorte zwischen Adel und Bürgertum sowie Diskussionszirkel der entstehenden deutschen Nationalliteratur darstellen. Obgleich Preußen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts politisch eher das Zentrum von Reaktion und Unterdrückung darstellt, erlebt der Staat und besonders seine Hauptstadt Berlin also eine erstaunliche Blüte der Kultur, die erst ein Jahrhundert später in der Weimarer Republik wieder eine ähnliche Bedeutung erlangen kann.
Wenn Preußen und Berlin im Bereich der Musikkultur auch noch lange hinter Wien zurückstehen, so erreicht die preußische Hauptstadt insbesondere in der Literatur die unangefochtene Spitzenstellung innerhalb der deutschsprachigen Kultur des frühen 19. Jahrhunderts. Die preußische Hauptstadt wird nach Jena und Heidelberg zum Zentrum der romantischen Literatur und zur Arbeits- und Wirkungsstätte von Dichtern wie Ludwig Tieck (1773-1853), Wilhelm Heinrich Wackenroder (1773-98), Achim von Arnim (1781-1831) und Clemens Brentano (1778-1842), dem märkischen Adligen und Hugenotten-Sproß Friedrich Baron de la Motte-Fouqué (1777-1843), dem aus dem schlesischen Landadel stammenden preußischen Regierungsbeamten und Schriftsteller Joseph von Eichendorff (1788-1857) mit seiner sensiblen Naturlyrik und Hinwendung zur Volkspoesie, dem Königsberger E.T.A. Hoffmann (1776-1822), dem Außenseiter und an Preußen verzweifelnden Heinrich von Kleist (1777-1811) sowie später dem Rheinländer und Preußen-Kritiker Heinrich Heine (1797-1856; vgl. auch den Themen-Artikel Intellektuelle in Preußen).
Wenn zahlreiche Literaten weniger durch den preußischen Staat gefördert in der Hauptstadt Berlin ihr Tätigkeitsfeld finden, sondern allzu oft eher in Opposition zu Preußen, so erhält die Stadt dennoch seit dem frühen 19. Jahrhundert in immer größerem Maße Zulauf von Intellektuellen aus allen deutschsprachigen Ländern. Aufgrund verstärkter Anstrengungen in seiner Bildungs- und Kulturpolitik ist an dieser Entwicklung aber auch der preußische Staat beteiligt. Parallel zum politischen und militärischen Aufstieg versteht es die preußische Kultusbürokratie gerade seit der Niederlage von 1806 gegen Frankreich, die zunächst fehlenden politischen und wirtschaftlichen Kräfte durch eine intensivierte und qualifiziertere Kulturpolitik zu ersetzen. Der preußische Staat, so die Meinung der Reformer, müsse seine Machteinbuße durch geistige Kräfte kompensieren. Gerade in dieser Zeit der Reformen in Preußen gehören allerdings Persönlichkeiten der preußischen Kultusbürokratie an, die durch ihr Profil und ihre Qualitäten andernorts und zu anderen Zeiten in Deutschland kaum mehr zu finden sind. So wirken an dieser „Lichtseite“ der preußischen Geschichte des frühen 19. Jahrhunderts so befähigte Organisatoren wie Wilhelm von Humboldt (1767-1835) als Erziehungsminister, sein Bruder Alexander von Humboldt (1769-1859) als Diplomat des preußischen Staates und, viel wichtiger, „zweiter Entdecker Amerikas“ einer der gefeiertsten Naturforscher seiner Zeit, der zu Weltruhm gelangt, sowie nicht zuletzt als erster Kultusminister der befähigte und perspektivisch denkende Karl Freiherr von Stein zum Altenstein (1770-1840).
Insbesondere die Gründung der Berliner Universität im Jahr 1809 wird dabei zu einem Markstein der preußischen Kulturentwicklung. Das Gründungskonzept dieses neuartigen Typs von Universität entwirft Wilhelm von Humboldt, der als preußischer Erziehungsminister das Prinzip der Einheit von Lehre und Forschung durchsetzt und in diesem Sinne eine moderne Vorstellung des Studierenden verwirklicht. Auf diese Weise wird die Berliner Universität zu der deutschen Lehrstätte, die bald die wichtigsten Lehrstuhlvertreter in beinahe allen Disziplinen unter ihrem Dach versammelt und in ihrer Konzeption und praktischen Lehr- und Forschungstätigkeit für viele andere deutsche wie internationale Universitäten zum Vorbild wird. An der Berliner Universität blüht im ersten Drittel des 19. Jahrhundert mit der Philosophie eine akademische Disziplin, die eine Generation zuvor mit Immanuel Kant in Königsberg ebenfalls in Preußen bereits einen ersten Höhepunkt erlebt hatte. Mit dem später als erster gewählter Rektor der Berliner Universität wirkenden Johann Gottlieb Fichte (1762-1814) hält ein Philosoph 1807/08 vor einem breiten Publikum „Reden an die deutsche Nation“. Er plädiert dabei für eine Fortsetzung des begonnen Reformwerks in Preußen sowie letztlich für eine bürgerliche deutsche Republik, gleichzeitig aber will er in nationalistischer Überheblichkeit die Menschheit von der angeblichen deutschen Überlegenheit profitieren lassen. Sein Nachfolger, der gebürtige Stuttgarter Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831), vollzieht mit seiner Lehre von der durch Widersprüche vorangetriebenen Entwicklung der Ideen eine philosophische Revolution, die Epoche macht. Mit Friedrich Schelling (1775-1854), dem Breslauer Theologen und Philosophen Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768-1834) sowie dem in der Lehre allerdings wenig erfolgreichen Danziger Arthur Schopenhauer (1788-1860) erlebt Berlin eine nie mehr wiederholte Blüte und Konzentration der Philosophie. Auch mit der neuhumanistischen Schulreform mit dem Erziehungsideal der klassisch-humanistisch gebildeten, harmonischen Persönlichkeit und der Einbeziehung der Pestalozzi-Bewegung gerade im preußischen Elementarschulbereich erreicht die Bildungspolitik der preußischen Kultusbürokratie im 19. Jahrhundert eine weltweit beachtete Vorbildstellung. Selbst Friedrich Engels registriert für die Volksschulen seiner Heimat, dem Wuppertal, immerhin ein „starkes Fortschreiten“, seit die rheinischen Gebiete unter preußische Herrschaft gekommen sind.
Gerade auch in der Architektur erlebt Preußen nach der Blüte dieser Disziplin zu Beginn unter Schlüter sowie in der Mitte des 18. Jahrhunderts mit Knobelsdorff erneut am Anfang des 19. Jahrhunderts mit dem aus Neuruppin stammenden Pfarrersohn Karl Friedrich Schinkel (1781-1841) ein weiteres und letztes Universalgenie des 19. Jahrhunderts, der gerade der preußischen Hauptstadt Berlin mit der Neuen Wache neben der Universität (1816-18), dem Schauspielhaus am Gendarmenmarkt (1818-21) sowie der richtungsweisenden Bauakademie (1832-36) ein bis heute wirksames neues Gesicht verleihen wird. Als preußischer Oberlandesbaudirektor werden seine klassizistischen künstlerischen Intentionen aber auch landesweit wirksam.
Aber bereits mit seinem Vorgänger, dem Direktor der Akademie der Künste Johann Gottfried Schadow (1864-1850), der mit der Quadriga auf dem Brandenburger Tor (1795) und dem Doppelstandbild der preußischen Prinzessinen Friederike und Luise (1797)
beachtliches leistet sowie mit den Werken von Christian Daniel Rauch (1777-1857), vor allem seinem lebensnahen und unheroischen Friedrich-Denkmal unter den Linden (1836-51), dem Schinkel-Schüler Ludwig Persius (1803-45) mit der Friedenskirche in Potsdam (1844-54) sowie den genialen Gartenbaumeister Peter Joseph Lenné (1789-1866) sowie Hermann Fürst von Pückler-Muskau (1775-1871) erreicht Preußen auch in diesem Kunstbereich der mitteleuropäischen Landschaftsarchitektur eine nie wieder erreichte Geschlossenheit und Qualität. Mit dem Bau von Schinkels Altem Museum (1823-29) als einem der ersten öffentlich zugänglichen Museen in Deutschland beginnt außerdem der Aufbau eines weltweit einmaligen Ensembles von Ausstellungshäusern der Kunst, das in den folgenden einhundert Jahren zur Museumsinsel ausgebaut wird und heute als Weltkulturerbe der Menschheit auf der exklusiven UNESCO-Liste steht.
Wenn Preußen und insbesondere sein Schmelzpunkt Berlin in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts also unbestritten zu einem kulturellen Anziehungspunkt für zahlreiche Intellektuelle und Künstler wird, die in Scharen in die preußische Hauptstadt ziehen, darf nicht vergessen werden, dass diese Zeit gleichzeitig politisch von Repression und Reaktion gekennzeichnet ist. Darunter leiden nicht nur die Schriftsteller E.T.A. Hoffmann und Heinrich von Kleist (vgl. Themen-Artikel Intellektuelle und Preußen), sondern das kulturelle Klima in Preußen ganz allgemein. Der Hohenzollern-Staat gehört zu den eifrigsten Zensoren dieser Zeit überhaupt und gerade nach der gescheiterten Revolution von 1848 wird das kulturelle Klima erheblich durch reaktionäre Maßnahmen bedrückt. Mit den sogenannten „Stiehlschen Regulativen“, benannt nach ihrem Verfasser, einem Beamten des preußischen Kultusministeriums, wird 1854 die Erziehung an den Volksschulen durch die Ziele einer orthodox-religiösen, christlichen Frömmigkeit und Liebe zur Dynastie gegängelt. Reformpädagogen wie der Westfale Adolph Diesterweg (1790-1866), der für eine freiheitliche Nationalerziehung mit der Betonung des naturwissenschaftlichen Bildungsgutes eintritt, werden kaltgestellt. Diesterweg wird bereits 1847 seines Amtes als Direktor des Berliner Lehrerseminars enthoben und bis zu seinem Tod 1866 keinen öffentlichen Posten mehr erhalten.
Wenngleich Preußen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Staat politisch durch das Aufgehen im Deutschen Reich immer mehr an Gewicht verliert, behält der preußische Staat als Land aufgrund der hohen Bildungs- und Kulturkompetenz der Länder in der Reichsverfassung auch im Kaiserreich und in der Weimarer Republik im Bereich der Kultur- und gerade auch der Wissenschaftspolitik überragende Bedeutung. Nach dem glanzvollen Auftakt der preußischen Wissenschaftspolitik durch die Gründung der Berliner Universität zu Beginn des Jahrhunderts, die durch weitere, leistungsstarke preußische Universitäten wie die von Breslau (1811) und Bonn (1818) ergänzt wird, dem Beginn des durch die Industrialisierung immer wichtiger werdenden technischen Bildungswesens mit der „Technische Schule“ des Gewerbepolitikers Peter Christian Wilhelm Beuth (1781-1853), aus der im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die Technische Hochschule in Charlottenburg hervorgehen wird, erfährt das preußische Bildungs- und Forschungswesen auch im Kaiserreich eine vorbildliche Förderung. Gerade der Ausbau der zentralen Wissenschaftseinrichtungen Preußens in seiner Hauptstadt Berlin mit zahlreichen spezialisierten Instituten an der Universität, der Charité als der wichtigsten medizinischen Forschungs- und Lehrstätte sowie weiteren Forschungseinrichtungen macht Berlin zu einem der wichtigsten Standorten der Wissenschaft in der Welt.
Insbesondere unter der Ägide (1882-1907) des fähigen Leiters des Hochschul- und Höheren Schulwesens im preußischen Kultusministerium, Friedrich Althoff (1839-1908), wird Preußen mit Berlin durch die Gründung der „ Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften“ 1911 als zentraler naturwissenschaftlich-technischer Groß- und Grundlagen-Forschungseinrichtung zu einem „deutschen Oxford“ und einer Nobelpreisschmiede, an der so wichtige Forscher wie Albert Einstein, Max Planck oder Max von Laue tätig sind und die in wesentlichen Teilen vom preußischen Staat finanziert wird. Die Ausgaben, die Preußen für Zwecke von Kultur und Wissenschaft jährlich tätigt, sind immens und nehmen im Kaiserreich und in der Weimarer Republik vergleichsweise sogar noch weiter zu, wobei Preußen für die anderen deutschen Ländern in vielerlei Hinsicht zum nachgeahmten Vorbild wird.
Allerdings erreicht die preußische Kulturpolitik im Kaiserreich dort ihre Grenzen, wo es im Zeichen des gesteigerten Nationalismus seit den 1890er Jahren um eine forcierte Germanisierungspolitik gegenüber der polnischen Minderheit vor allem in der Provinz Posen geht. Hier entfernt sich Preußen während des Kaiserreichs mehr und mehr von seiner traditionellen kulturellen Toleranz und verschärft das deutsch-polnische Verhältnis durch eine einseitige Förderung deutscher Kulturelemente wie deutscher Kulturhäuser und Kindergärten und der entsprechenden Behinderung polnischer kultureller Eigenständigkeit durch das Verbot polnischer Straßennamen und ähnlicher Maßnahmen. Auch die anderen ethnischen Minderheiten im preußischen Herrschaftsbereich sind von diesem stärkeren Assimilierungsdruck seit der Reichsgründung betroffen. So wird etwa 1888 für die Sorben der fakultative Sprachunterricht am Gymnasium in Cottbus aufgehoben.
Aber auch in den kulturellen Leistungen der Künstler selbst behält Preußen seine Bedeutung. In der Literatur sind es Willibald Alexis (1798-1871) mit seinen vor allem in der Mark Brandenburg spielenden „Vaterländischen Romanen“ aus der brandenburgisch-preußischen Geschichte sowie der Schlesier Gustav Freytag (1816-95) mit seinen kulturhistorischen Arbeiten („Bilder aus der deutschen Vergangenheit“, 1859-67) sowie seinen das Bürgertum poetisch verklärenden Romanen, die eigenständige und gewichtige Beiträge zur deutschen Literatur liefern. Mit dem Schriftsteller Theodor Fontane (1819-98) erhält das Land einen Romancier und Feuilletonisten, der in beiden literarischen Feldern Innovatives und Neues schafft und gerade in seinen für die deutsche Literatur richtungsweisenden kritischen Gesellschaftsromanen zu einem scharfsichtigen Kritiker gerade preußischer Untugenden wird. Auch im Bereich der Kunst, insbesondere der Malerei, entwickelt sich Berlin insbesondere mit der Sezession und Malern wie Adolph Menzel (1815-1905) und Max Liebermann (1847-1935) zu einem deutschen Kunstzentrum. Die preußische Akademie der Künste in Berlin wird zur wichtigsten derartigen Einrichtung im Deutschen Reich. Allerdings verwischen sich in der Kultur die preußischen und reichsdeutschen Zuständigkeiten mehr und mehr und Preußen bzw. insbesondere die Hauptstadt Berlin wird zu einer geistigen Plattform für das gesamte deutsche Reich, in dem der Faktor Preußen schließlich auch in kultureller Hinsicht eine zunehmend unbedeutendere Rolle spielt.
Insgesamt, dies zeigt dieser freilich nur die wichtigsten Etappen und Einschnitte einer preußischen Kulturgeschichte aufzeigende Abriss, beherrscht die Dualität von Fortschrittlichkeit und Reaktion auch die preußische Kulturpolitik. Allerdings erscheint die kulturelle Entwicklung Preußens, gerade auch die Leistung, Modernität und Effizienz der staatlichen Verwaltung in diesem Bereich für das gesamte Land, als einer der bemerkenswerten Beiträge Preußens für die deutsche Zivilisationsentwicklung. Von diesen positiven Beiträgen Preußens gibt es ansonsten nicht allzu viele, die bis heute ihre Bedeutung behalten. Die positiven Traditionen der Kulturgeschichte Preußens, die kulturelle Toleranz, Weltoffenheit und geistige Kreativität dieses sich immer als aktiven Kulturstaat verstehenden Gebildes, gehören mit Sicherheit zum historischen Vermächtnis dieses untergegangen Staates, das heute noch für uns relevant sein kann.