Preußen und Polen - vom Nachbar zur Beute
Seit Beginn des deutschen Ordensstaates in Preußen war die Geschichte des Landes eng mit der Geschichte Polens verbunden. Im 14. und 15. Jahrhundert hatte der Orden Menschen aus dem polnischen Herzogtum Masowien zur “Erschließung der Wildnis“ angesiedelt. Polen gehörte in dieser Zeit zu den Führungsmächten in Europa. Erbstreitigkeiten unter den polnischen Fürsten und kriegerische Auseinandersetzungen mit den Nachbarländern schwächten jedoch über Jahrhunderte das Land. Anfang des 18. Jahrhunderts gehörte es noch zu den größsten Flächenstaaten Europas. Am Ende des Jahrhunderts sollte Polen für einen langen Zeitraum ganz von der Landkarte verschwinden.
Im Kampf zwischen Schweden und Polen um die Vormachtstellung an der Ostsee 1656 konnte der brandenburgische Kurfürst Friedrich Wilhelm einen Staat um das Herzogtum Preußen erweitern, das seit 1525 unter polnischer Lehnhoheit stand. Im Nordischen Krieg 1700-1721 verlor Schweden seine Vormachtstellung in Nord- und Osteuropa an Russland. Preußen erweiterte im Friedensvertrag von Stockholm 1720 sein Gebiet um Vorpommern bis zur Peene. Im Vertrag von Nystad 1721 musste Schweden Estland, Litauen und Ingria, einem Teil Kareliens, an Russland geben. Mit der gewonnenen Vorherrschaft im Baltikum rückte Russland strategisch näher an Preußen heran. Diese Konstellation sollte für Europa ein Jahrhundert lang richtungweisend sein.
Infolge des Siebenjährigen Krieges 1746-1753 war Preußen zur zweiten deutschen Großmacht aufgestiegen. Es dauerte nur zwei Jahrzehnte, bis Preußen zusammen mit anderen Großmächten wie Österreich und Russland 1772 im polnischen Bürgerkrieg intervenierte. Der Drang Preußens nach Osten resultierte aus der europäischen Kräftekonstellation. Westeuropa wurde von den starken Mächten Frankreich und England beherrscht. Das südliche Europa stand unter Einfluss der deutschen Großmacht Österreich. Im Norden war die Vorherrschaft Schwedens im Ostseeraum gebrochen. Auf der östlichen Seite drang Russlands Einflussbereich auch im Ergebnis der Erfolge über das Osmanische Reich näher nach Preußen. Die Außenpolitik Preußens führte daher zu einem gemeinsamen preußisch-russischen und österreich-russischen Vorgehen. Friedrich II. wurde zum Architekten der Ersten Teilung Polens. Preußen begann damit, nicht nur die deutsche Geschichte nachhaltig zu beeinflussen, sondern auch die Geschichte der Polen. Mit der Einverleibung eines großen Teils von Polen befand sich Preußen auf dem Weg zum Zwei-Nationen-Staat, analog dem österreichischen Vielvölker-Staat. Die Interessen der Hohenzollern-Dynastie wurden über die Interessen Deutschlands auf dem Weg zu einem unabhängigen Nationalstaat gestellt.
Am 5. August 1772 unterzeichneten Preußen, Österreich und Russland den Ersten Teilungsvertrag Polens, demzufolge Polen 50 Prozent seiner Bevölkerung und 40 Prozent seines Territoriums verlor. Preußen erhielt das wichtigste Gebiet des Landes: den nördlichen Teil (ohne Danzig und Thorn), Ermland und den Netzedistrikt. Das waren 36 000 Quadratkilometer mit überwiegend polnischer Bevölkerung (500 000). Friedrich II. trug nun auch den Titel König von Preußen. Das neu hinzugekommene Territorium erhielt die Bezeichnung Westpreußen, das alte Gebiet, einschließlich Ermland, Ostpreußen. Das bedeutete nicht nur die Inbesitznahme eines Gebietes, sondern vor allem eine verbesserte strategische Position Richtung Osten durch die territoriale Vereinigung Westpreußens mit Ostpreußens. Außerdem kontrollierte Preußen dadurch 40 Prozent des Außenhandels des alten Polens. Es beseitigte alle alten polnischen Rechte über diese Zone. Der Teilungsvertrag von 1793 bestätigte die volle Souveränität Preußens über dieses Territorium.
Die Siege der russischen Truppen gegen die Türken führten dazu, dass das osmanische Reich kaum noch eine Rolle in Europa spielte und die Möglichkeit der weiteren Teilung Polens einräumte. Der Vertrag zwischen Preußen und Russland 1793 unfasste eine zweite Teilung Polens. Preußen erhielt Danzig, Thorn und fast ganz Großpolen (Südpreußen). Der Versuch seitens des restlichen Polens sich gegen die preußische und russische Demütigung 1794 mittels einer allgemeinen Volksbewaffnung zu wehren, endete mit seiner Kapitulation. Im Ergebnis kam es 1795 zwischen Preußen, Russland und Österreich zur vorläufig letzten und endgültigen Aufteilung Polens. In dieser Dritten Teilung erhielt Preußen Podlachien, Masowien mit Warschau (Neuostpreußen) und Neuschlesien. 1795 trat der polnische König offiziell zurück und Polen hörte für 123 Jahre auf, auf der europäischen Landkarte zu existieren.
Im Ergebnis der Annexion großer Teile Polens wuchs die Bedeutung Preußens in Europa. Innenpolitisch war es vor neuen Aufgaben gestellt. Zwischen der deutschen Bevölkerung des alten Preußens und der annektierten polnischen Bevölkerung musste eine politische und soziale Übereinkunft hergestellt werden. Der überwiegend protestantische Teil des alten Preußens sah sich nun katholischen polnischen Einwohnern gegenüber, an deren nationaler Integration nicht zu denken war. Die Schaffung einer einheitlichen deutschen Nation unter Preußens Führung verlor damit vorerst an Bedeutung.
Nach der Niederlage gegen Frankreich bei Jena und Auerstedt 1806 und gegen Frankreich und Russland bei Friedland 1807 musste Preußen beinahe alle Gebietserweiterungen aus der Zweiten und Dritten Teilung sowie alle Territorien westlich der Elbe abgeben. Es hatte damit mehr als die Hälfte seines Territoriums verloren. Das restliche Preußen mit den Provinzen Brandenburg, Pommern, Preußen und Schlesien wurde von französischen Truppen besetzt und musste hohe Kriegsentschädigungen an Frankreich leisten. Im Tilsiter Frieden 1807 zwischen Frankreich, Russland und Preußen bildete Napoleon I. aus den preußischen Teilen Polens das Großherzogtum Warschau unter König Friedrich August I von Sachsen. Russland hatte aus eigenen Interessen verhindert, dass Preußen ganz aufgeteilt wurde. Preußen war zur Mittelmacht degradiert worden. 1812 zog ein polnisches Heer mit Napoleon gegen Russland. König Friedrich August I. von Sachsen wurde gefangen genommen und musste später sein Bündnis mit Napoleon teuer bezahlen, indem er den nördlichen Teil Sachsens an Preußen verlor.
Nach der vernichtenden Niederlage in der Völkerschlacht bei Leipzig 1813 brach Napoleons Herrschaft über Deutschland zusammen. Die damit verbundene territoriale Neuordnung Europas auf dem Wiener Kongress 1815 basierte außenpolitisch auf die Restauration der Verhältnisse vor der Französischen Revolution von 1789. Polen wurde erneut geteilt. Preußen kehrte an die Seite der europäischen Großmächte England, Frankreich, Russland und Österreich zurück. Es erhielt Nordsachsen, die (spätere) Rheinprovinz, Westfalen und Schwedisch-Vorpommern mit Rügen und musste dafür Ansbach und Bayreuth, Ostfriesland und die polnischen Gebiete aus der Dritten Teilung Polens abgeben. Das verbleibende Kongresspolen wurde als Königreich dem russischen Zaren in Personalunion unterstellt, welcher 1818 eine Verfassung und eine begrenzte Autonomie (bis 1830/1831) zuließ. Die Neuordnung einzelner Territorien bedeutete sowohl für Preußen als auch für Russland eine Westverlagerung ihrer Einflussgebiete in Europa.
Während der Revolution von 1848 in Deutschland kam es im Großherzogtum Posen zu einem Aufstand, der vom preußischen Militär niedergeschlagen wurde. In diesem Zusammenhang entschied sich die Frankfurter Nationalversammlung 1848 als erstes gesamtdeutsches, freigewähltes und verfassungsgebendes Parlament in der Polendebatte für die kleindeutsche Lösung: Deutschland ohne Österreich sollte unter Preußens Führung zusammen mit den zu Preußen gehörenden polnischen Gebiete einen Nationalstaat bilden. Die großdeutsche Lösung unter Einbeziehung Österreichs setzte sich nicht durch. Posen wurde preußische Provinz. Nun verstärkte man die Eingliederungsbemühungen der polnischen Bevölkerung in Preußen. Deutsch wurde als Amtssprache bevorzugt, der polnische Adel in seinen Rechten eingeschränkt und die deutsche Kultur, Bildung und Wirtschaft zu Lasten der polnischen gefördert.
Otto von Bismarcks politischer Kurs blieb auch nach der Gründung des Deutschen Reiches 1871 unter Führung Preußens der Reichseinigungspolitik verpflichtet. Er versuchte, die ehemaligen polnischen Gebiete im Deutschen Reich weiter zu integrieren. Jedweder polnischer Sonderstatus wurde verboten. Das Bildungssystem basierte seit 1873 vollständig auf Grundlage der deutschen Sprache und Gesetzgebung. Durch das 1886 verabschiedete Kolonisationsgesetz sollten sich deutsche Bauern unter der polnischen Bevölkerung niederlassen. Die Repressionspolitik gegenüber der polnischen Bevölkerung setzte sich bis ins 20. Jahrhundert fort. Eine Integration der polnischen Bevölkerung in das deutsche Reich fand jedoch nicht statt, da die nationale Identitätsfindung der Polen zu weit vorangeschritten war. Im Gegenteil: die jahrzehntelangen Demütigungen der polnischen Bevölkerung durch das preußische Deutschland und durch Russland führten zu unüberwindlichen Gegensätzen und bestimmten die zwischenstaatlichen Beziehungen auch während des 20. Jahrhunderts.
Infolge des Ersten Weltkrieges und der Revolution in Russland 1917 kam es zur Gründung der polnischen Republik (1918). Deutschland musste gemäß dem Versailler Vertrag von 1919 Posen und den größten Teil Westpreußens abtreten. Danzig wurde freie Stadt und Ostpreußen territorial vom Reichsgebiet abgetrennt. Auch im Zweiten Weltkrieg gelang es den Nationalsozialisten mit der Besetzung Polens (1. September 1939) nicht, Teile des Landes erneut auf Dauer an das Dritte Reich anzugliedern. Das Kriegsgeschehen führte letzten Endes unter Einfluss der Großmächte USA, Großbritannien, Frankreich und der Sowjetunion zur Abtretung weiter preußisch-deutscher Provinzen (Hinterpommern, Westpreußen, Teile Ostpreußens, Neumark, Schlesien) an Polen, das seinerseits östliche Territorien an die Sowjetunion verlor, die auch den größten Teil Ostpreußens annektierte, so dass die Volksrepublik Polen (jetzt: Polnische Republik) mit ihrem Staatsgebiet auch nahezu alle früheren preußischen Ostprovinzen umfasst.