Juden in Preußen – Zwischen Ausgrenzung und Assimilation
Als 1640 Friedrich Wilhelm Kurfürst von Brandenburg wurde, fand er in seinen Landen nur eine geringe jüdische Bevölkerung vor. In Ostpreußen lebten noch die meisten Juden, wenn auch auf unklarer rechtlicher Grundlage. Auch in der Grafschaft Mark und im Herzogtum Kleve gab es eine kleine, verstreute jüdische Bevölkerung. In der Kurmark selbst gab es damals keine Juden. Sie waren bereits vertrieben worden, nachdem der Hofkämmerer und Münzmeister Lippold des Mordes an Kurfürst Joachim II. verdächtigt und 1573 hingerichtet worden war.
Unter dem Großen Kurfürsten setzte dann eine Entwicklung ein, in der das jüdische Leben in Preußen ein immer größeres Gewicht bekommen sollte. So erwarb er mit den ehemaligen Bistümern Halberstadt und Minden auch deren jüdische Gemeinden, denen er 1650 ein Privileg gewährte, das den Familien gegen die jährliche Zahlung eines Schutzgeldes ein Aufenthaltsrecht garantierte. Nachdem er anfangs eine Ansiedlung von Juden in der Mark gegen den Widerstand der Stände nicht durchzusetzen vermochte, war nach drei Jahrzehnten seine Macht so gefestigt, dass er 1671 die Ansiedlung von vertriebenen Wiener Juden in der Mark Brandenburg anordnete. Fünfzig wohlhabende Familien wurden angeworben. Die, die kamen, erhielten auf 20 Jahre das Recht auf Niederlassung und Handel bei Erhebung eines Schutzgeldes für jede Familie, der Bau einer Synagoge wurde hingegen untersagt. Merkantilistisches Wirtschaftsdenken und der Ausgleich der im Dreißigjährigen Krieg erlittenen Bevölkerungsverluste waren die hauptsächlichen Motivationen für diesen Schritt gewesen, aber erst die herrschende relative Ungezwungenheit in konfessionellen Dingen hat ihn ermöglicht.
In der Folge entstanden jüdische Gemeinden in Berlin, Brandenburg und Frankfurt an der Oder, die bald wuchsen, und von deren Steuer- und Zollzahlungen die Staatskasse ebenso profitierte wie das Wirtschaftsleben von den Aktivitäten der jüdischen Kaufleute. Auch unter König Friedrich I., der die Privilegien seines Vaters bestätigte, setzte sich dieses Wachstum fort. Er gestatte den 1712 begonnen Bau der ersten Synagoge in Berlin in der Heidereuther Gasse. Wesentlich enger steckte der Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. den rechtlichen Rahmen für die Existenz der Juden in Preußen: ein Jahr nach seinem Regierungsantritt 1713 erließ er ein Gesetz, nach dem nur der älteste Sohn den Schutzbrief und damit das Aufenthaltsrecht des Vaters erben konnte, während höchstens zwei weitere Söhne hohe Summen für einen Schutzbrief zahlen mussten. Außerdem mussten die Juden jährlich zusammen eine Summe von 15000 Talern aufbringen. Besonders erniedrigend war der Leibzoll, den Juden an den Zollschranken entrichten mussten, als seien sie Vieh. Andererseits wurden die jüdischen Kaufleute durch günstige Bedingungen ermutigt, sich als Manufakturisten zu betätigen. Die Judenpolitik des Soldatenkönigs zielte also einerseits auf die Begrenzung der Zahl der Juden, andererseits auf die Ausnutzung ihres wirtschaftlichen Potentials.
Friedrich II. erließ 1750 das „Revidierte Generalprivilegium und Reglement“, in dem die aufenthaltsberechtigten Juden in sechs Klassen unterteilt wurden.
Am besten gestellt waren die wenigen „Generalprivilegierten“, die christlichen Kaufleuten gleichgestellt waren. Zu ihnen gehörten die steinreichen Kaufleute, Hofjuden und Münzunternehmer ( Münzpacht) Daniel Itzig und Veitel Ephraim, die dem König bei der Finanzierung des Siebenjährigen Krieges gute Dienste leisteten. Dann gab es „ordentliche Schutzjuden“, die ihren Schutzbrief auf zwei ihrer Kinder übertragen durften, während „außerordentliche Schutzjuden“ nur ein Kind „ansetzen“ durften, so sie es denn mit 1000 Talern ausstatteten. Außerdem wurden öffentliche und private Bedienstete sowie „Tolerierte“, die über keinerlei Rechtsansprüche verfügten, gegebenenfalls geduldet. Diese Gesetze wurden erlassen, nachdem eine Zählung ergeben hatte, dass es weit mehr Juden in Preußen gab als vom Soldatenkönig erwartet.
Als Rechtfertigung diente die Verbesserung der Lage von jüdischen wie christlichen Kaufleute, die durch zu viele Juden angeblich gefährdet werde. Bei dieser Einschätzung spielte anscheinend die Existenz einer jüdischen Unterschicht eine Rolle, gegen die auch die verschärften Bestimmungen gegen Betteln und Hausieren gerichtet war. Offenbar sah man einen Zusammenhang zwischen diesen (sicherlich häufig auswärtigen) „Betteljuden“ und der Überschreitung der Quote.
Die Juden mussten weiterhin hohe Kollektivzahlungen aufbringen, z. B. hatten sie sich gegen das Recht für außerordentliche Schutzjuden, den Schutzbrief zwei Kindern zu vererben, zur Übernahme der unrentablen Templiner Textilmanufaktur verpflichtet. Berüchtigt war der Kaufzwang für die minderwertigen Produkte der königlichen Porzellanmanufaktur, dem jeder Schutzjude bei familiären Anlässen unterworfen war. Die Juden wurden zur Übernahme und Gründung von Manufakturen angehalten, und das häufig mit Hilfe des Druckmittels der Schutzbriefe. Nicht weniger als 37 der 46 in der Regierungszeit Friedrich II. ins Leben gerufenen Fabriken waren jüdische Gründungen.
Wenn diese Konversionen auch prozentual kaum ins Gewicht fielen, so fällt doch ihre Konzentration auf Städte wie Berlin und Königsberg auf. Dort kam es auch zu Mischehen zwischen Christen und Juden.
Unmittelbar verbunden mit diesem Streben nach Akkulturation bzw. Assimilation war die Forderung nach Emanzipation. Diese war durch Johann Christian Dohms Schrift „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden“ von 1781 erstmals in die öffentliche Diskussion gerückt worden. Dohm, der am Anfang einer überaus umfangreichen Debatte stand, schlug eine Gleichberechtigung der Juden im Anschluss an ein Erziehungsprogramm vor, das die Juden durch staatliche Führung und die Ausübung anderer Berufe außer dem Handel von ihrer „Verderbtheit“, die auf ihre gedrückte Lage zurückzuführen seien, befreien würde. Diese Vorstellung einer notwendigen Erziehung der Juden zu „glücklicheren und besseren Gliedern der bürgerlichen Gesellschaft“ sollte immer wieder in der preußischen Judenpolitik auftauchen.
Die Judenpolitik Friedrichs II. war außer von dem Wunsch, Staatskasse und Wirtschaft zu fördern, auch von einer persönlichen Abneigung des Königs geprägt. Seine deistischen, Überzeugungen, denen zufolge er einen überkonfessionellen Gottesglauben auf die Vernunft gründete, ließen ihn in den Juden eine primitive, abergläubische Sekte erblicken.
Die Aufklärung hat nicht nur eine ablehnend-deistische, sondern auch eine tolerant-humanistische Sehweise auf das Judentum gefördert. Letztere hat im Verlauf des 18. Jahrhunderts immer größeren Einfluss gewonnen, wobei Juden, die sich westlicher Bildung und der Aufklärung öffneten, einen großen Anteil an dieser Entwicklung hatten. An erster Stelle steht hier zweifellos Moses Mendelssohn (1729-1786), der zum ersten Mal eine jüdische Identität und europäische Kultur in seinem Leben und Werk vereinigte.
Das Ergebnis war die Haskala, die jüdische Aufklärung. Er pflegte Umgang mit Denkern christlicher Herkunft, veröffentlichte deutsch und hebräisch geschriebene aufklärerische Werke und verteidigte die Eigenart der jüdischen Religion gegen die nivellierenden Ansprüche einer natürlichen, deistischen Religion. Neben Mendelssohn gab es in Berlin noch viele andere Juden, die den Kontakt zur christlichen Umwelt suchten und nach Anpassung an diese strebten. So wurden die Salons von Rahel Varnhagen oder Henriette Herz in den Jahren von 1780-1806 Treffpunkte der Berliner Gesellschaft. Während Moses Mendelssohn sich die deutsche Kultur angeeignet und die jüdische Religion selbstverständlich weiterhin gepflegt hatte, strebten die folgenden Generation statt nach einer teilweisen Übernahme der deutschen Kultur (Akkulturation) bald nach völliger Angleichung an die deutsche Kultur und Gesellschaft (Assimilation). Ihre Religion wurde dabei bald zu einem Hindernis und als Makel empfunden. Viele vernachlässigten den Glauben ihrer Väter. Andere gaben ihn ganz auf und ließen sich taufen.
Die Thronbesteigung Friedrich Wilhelms II., der als Kronprinz eine Büste Moses Mendelssohns in seiner Wohnung aufgestellt hatte, brachte zuerst Erleichterungen für die Juden und damit die Hoffnung auf eine vollständige Gleichstellung. So wurde der Leibzoll sowie der Porzellanzwang gegen Ablösezahlungen abgeschafft. Schon bald verlor sich jedoch der gute Wille des Königs in den Verschleppungen und dem Unwillen der erstarrten Bürokratie. Eine auf eine Eingabe jüdischer Repräsentanten hin 1787 gegründete, aus Beamten bestehende Reformkommission kam zu Vorschlägen, die auf eine weitgehende Fortsetzung der diskriminierenden Regelungen hinausliefen. Es kam aber nie zu dem Erlass einer „neuen“ Judenordnung. 1795 wurden die Ältesten der Berliner Judenschaft noch einmal aktiv und baten um die Rücknahme der Solidarhaftung bei Hehlerei, Bankrott etc. Erst 1801 wurde die Solidarhaftung abgeschafft.
Anders verhielt sich die Verwaltung im Umgang mit den Juden in den ehemals polnischen Gebieten. Nach den beiden polnischen Teilungen 1793 und 1795 vergrößerte sich die Zahl der Juden unter preußischer Herrschaft schlagartig. 180 000 von insgesamt 220 000 lebten in den neuen Provinzen.
Da die Juden in Polen schon immer Zugang zu handwerklichen Berufen hatten und als Händler und Fuhrleute eine zentrale Rolle im polnischen Wirtschaftsleben spielten, erwies es sich als kaum ratsam dem Beispiel Friedrich II. zu folgen.
Der hatte 1772 im damals erworbenen Westpreußen das Judenreglement von 1750 eingeführt und die armen Juden einfach vertrieben. Die verantwortlichen Beamten erließen ihre vergleichsweise großzügigen Regelungen nicht nur aus praktischen Erwägungen, sondern auch unter dem Einfluss der Aufklärung. So durften die Juden in Südpreußen weiterhin handwerkliche Berufe betreiben und durften alle ihre Kinder „ansetzen“. Man bemühte sich, die Juden einerseits zwecks Förderung des Handels verstärkt in den Städten anzusiedeln, aus denen sie zuvor verbannt waren, andererseits sie zu ihrer „Verbesserung“ auf Bauernstellen anzusiedeln, was aber kaum gelang. Die Juden begrüßten die Maßnahmen der neuen Herren, zumal sie in Polen in ständiger Angst vor Übergriffen gelebt hatten.
Der von einwanderungswilligen Juden aus dem russischen Teil Polens ausgeübte Bevölkerungsdruck wurde dann auch ein – wenn auch nicht der wichtigste – Faktor, der schließlich die preußische Führung von der Notwendigkeit einer grundlegenden Reform der die Juden betreffenden Rechtsverhältnisse überzeugte. Die Judenemanzipation wurde ein Teil des großen Reformprogramms, dass angesichts der schmachvolle Niederlage gegen Napoleons Armeen ins Werk gesetzt wurde. Anreiz zur Gewährung der Gleichberechtigung gab wiederum eine Mischung aus Pragmatismus und dem noch aufklärerisch beeinflussten „Beamtenliberalismus“. Zum einen war da die Finanznot, die den Staat dazu veranlasste, seine Domänen zu veräußern. In dieser Zeit zählten wohlhabende Juden zum engsten Interessentenkreis. Gewährte man ihnen das Recht, Land zu erwerben, durfte man auf höhere Einnahmen hoffen. Darüber hinaus legte die Verschuldung zahlreicher Gutsbesitzer bei jüdischen Gläubigern diesen Schritt nahe. Eine weitere Motivation lag ursprünglich – natürlich – auch in der Stärkung der militärischen Macht, die die Gleichheit in Rechten und Pflichten mit sich brachte.
Und so wurde das von den Betroffenen begeistert begrüßte „Edikt vom 11. März 1812 betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in dem Preußischen Staate“ erlassen.
Da ihre Religionszugehörigkeit ihnen aber eine Karriere unmöglich machte, traten einige von ihnen zum Christentum über, so zum Beispiel Heinrich Heine und Eduard Gans, der, obwohl Meisterschüler Georg Friedrich Hegels, nur durch Konversion seinen Lehrstuhl für Rechtswissenschaften erlangte. Auch in anderen Zusammenhängen gab es viele Konversionen, nicht zuletzt auch aus Überzeugung wie bei Friedrich Julius Stahl, der in seinem politischen Denken die konstitutionelle Monarchie auf christliche Grundlagen gründete.
Die Akkulturation an die deutsche Kultur war erst durch die Krise des traditionellen religiösen Grundlagen des Judentums möglich und notwendig geworden. Moses Mendelssohns Haskala hatte die Richtung gewiesen für neue, eine innere Differenzierung bewirkende Versuche, ein Judentum auf neuen Grundlagen zu errichten. Ein Versuch war der kurzlebige, 1819 gegründete „Verein für die Wissenschaft des Judentums“, der das jüdische Erbe durch wissenschaftliche Auseinandersetzung zu einem universellen und zugleich eine jüdische Identität stiftenden Bildungsgut machen wollte. Ein anderer Versuch war die Reformierung der Praxis und der Inhalte der jüdischen Religion, die die Bedeutung des Religionsgesetzes minderte und die Formen des Gottesdienstes dem Zeitgeist und auch den sprachlichen Fähigkeiten der Gläubigen anzupassen suchte. Jedoch untersagte die Regierung auf Drängen religiös konservativer Persönlichkeiten der jüdischen Gemeinde 1823 die in einem Privathaus abgehaltenen, einem reformierten Ritus folgenden Gottesdienste, da der König religiösen Nonkonformismus jeglicher Art nicht duldete. Erst seit den vierziger Jahren kam es zum Aufblühen der Reformbewegung, der dann bald der Großteil der deutschen und preußischen Juden angehören sollte.
Als Angehörige einer diskriminierten Minderheit und des politisch unmündigen Bürgertums hatten Juden doppelt Anlass, zu den bestehenden Verhältnissen in Opposition zu gehen. Wenn auch die Mehrheit der Unternehmer und Bankiers eher die Erhaltung der bestehenden Verhältnisse wünschte, so gab es doch nicht wenige jüdische Politiker, die im Jahre 1848 auf der Seite der Revolution standen. Einige von ihnen wurden in die Frankfurter Nationalversammlung oder in die preußische Konstituante gewählt. 1847 hatte Friedrich Wilhelm IV., auf den die jüdischen Repräsentanten anfangs große Hoffnungen gesetzt hatten, noch ein Gesetz erlassen, dass Juden eine Hochschullaufbahn gestattete, sie dabei aber auf Medizin, Naturwissenschaften und Sprachen beschränkte.
Es erklärte die Juden zu „Einländern und Preußischen Staatsbürgern“, enthielt aber die folgenreichen Einschränkungen, dass sowohl Zulassung zum Staatsdienst als auch die genaue Handhabung der Militärpflicht in späteren Regelungen formuliert werden sollte. Es stieß auf zum Teil harsche Kritik, denn schon seit den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts hatten sich das geistige Klima und damit die Haltung gegenüber den Juden zu deren Ungunsten verändert. Idealismus und Romantik betonten im Gegensatz zur Aufklärung das die Völker und Religionen Unterscheidende viel mehr als das den Menschen Gemeinsame. So meinte Johann Gottlieb Fichte etwa, dass Integration und Emanzipation dieses „Staates im Staate“ der Unmöglichkeit gleichkomme, den Juden „die Köpfe abzuschneiden und andere aufzusetzen, in denen auch nicht eine jüdische Idee sei.“ So ist es kaum verwunderlich, dass der preußische Staat nach dem Sieg über Napoleon, zu dem viele und oft ausgezeichnete, patriotisch gesinnte jüdische Freiwillige beigetragen hatten, auch in der Judenpolitik zurück anstatt voran schritt.
Denn statt einer Ausdehnung des Emanzipationsedikts, das 1812 für das damals nur aus Brandenburg, Ostpreußen, Pommern und Schlesien bestehende Staatsgebiet erlassen worden war, behielt Preußen in den auf dem Wiener Kongress dazu gewonnenen Gebieten die dort jeweils geltenden Regelungen bei. Das bedeutete, dass für nicht einmal 30 Prozent der jüdischen Bevölkerung Preußens das Edikt für Gültigkeit hatte. Auf der einen Seite war im ehemaligen Königreich Westfalen, das die Heimat von ca. 7 Prozent der preußischen Juden war, zumindest theoretisch völlige Gleichstellung gewährt worden. In der linksrheinischen, ehemals französischen Rheinprovinz blieb somit für ca. 14 Prozent der Juden das die Berufswahl stark einschränkende décret infame von 1808 bestehen. In den Provinzen Posen und Westpreußen schließlich, wo um 1830 fast die Hälfte aller Juden in Preußen lebten, verblieben die Juden in der noch aus polnisch-russischer Zeit stammenden Rechtlosigkeit, die Ghettozwang und in einigen Städten das Recht zur Vertreibung einschloss. Erst 1833 teilte man dort die Juden in „Naturalisierte“, die in ihren Rechten zwischen den Gleichberechtigten und den früheren Schutzjuden standen, und „nicht Naturalisierte“ (Tolerierte, also letztlich Rechtlose) ein. Insgesamt waren die preußischen Juden Gegenstand von 22 verschiedenen Rechtsordnungen. Selbstverständlich war es den Juden nicht gestattet, von einem Landesteil in einen anderen zu ziehen. Dazu kam, dass die im Emanzipationsedikt angekündigten Regelungen verschleppt wurden und die Juden so aus der Lehre an den Hochschulen, dem Beamtenapparat, und dem Militär ausgeschlossen blieben.
Inzwischen war der Prozess der Akkulturation der Juden immer weiter vorangeschritten. Auch die 1819 in Franken ausgebrochenen antisemitischen Hep-Hep-Unruhen hielten diesen Prozess nicht auf. Schließlich blieb Preußen von ihnen fast unberührt, und nur in Danzig kam es zu größeren Ausschreitungen. Das unaufhaltsame Hineinwachsen in die Mehrheitsgesellschaft gelang im Wirtschaftsleben besonders gut. Jüdische Bankiers, wie in den vierziger Jahren Gerson Bleichröder, spielten eine wichtige Rolle bei der Finanzierung der beginnenden Industrialisierung. Das Gros der Juden (außerhalb der Provinz Posen) strebte nach dem, was den Bürger’ ausmacht: nach Besitz und Bildung. In den zwanziger Jahren hatten bereits viele der Jüngeren eine akademische Ausbildung genossen und bereicherten das geistige Leben der Zeit.
Jetzt aber strebten Männer wie Gabriel Riesser und Johann Jacoby endgültig die volle Gleichberechtigung an, die dann in den revolutionären Verfassungen wie auch in der „revidierten“ preußischen Verfassung von 1850 verkündet wurde. Allerdings fanden sich in letzterer empfindliche Einschränkungen, da sie Juden aus „Einrichtungen des Staates, die mit der Religionsausübung in Zusammenhange stehen“, also Erziehung und Kultur sowie allen Ämtern, die einen Eid erforderten, ausschloss. Immerhin war nun für ganz Preußen ein einheitliches Recht geschaffen worden, was die schon in den vergangenen Jahrzehnten immer deutlicher sichtbar gewordene Verstädterung der jüdischen Bevölkerung noch förderte. So lebten 1910 mit 150 000 Menschen 44 % aller preußischen und 27 % aller deutschen Juden in Berlin.
Die Gründung des Norddeutschen Bundes und dann des Deutschen Reiches brachte die endgültige Gleichberechtigung. An diesem Punkt geht die Geschichte der Juden in Preußen großenteils, jedoch keineswegs vollständig in die deutsch-jüdische Geschichte auf: Da die Reichsverfassung, in der die Gleichberechtigung kodifiziert war, weitgehende Kompetenzen bei den Ländern beließ, blieb es für die Juden im Deutschen Reich in einigen Bereichen weiterhin spürbar, in welchem der deutschen Ländern sie lebten. In erster Linie betraf dies die Karrieremöglichkeiten an den Hochschulen, im Militär und der Verwaltung. In Preußen berief man sich bis 1918 auf die Verfassung von 1850, als man Juden aus der höheren Verwaltung und dem Offiziersamt ausschloss. Lediglich die Justizverwaltung wurde jüdischen Anwärtern geöffnet. Professuren wurden für gewöhnlich nur in technischen Fächern vergeben, und die Anzahl jüdischer Ordinarien blieb im Verhältnis weit unter denen der jüdischen Studienabgänger und Privatdozenten. Diese Situation wurde nach dem Ende der liberalen Ära in Preußen 1878/79 noch schwieriger.
Dass der Zugang zu diesen traditionellen Karrieren den Juden erschwert oder sogar ganz versperrt blieb, mag ihr Gewicht, das sie im Erwerbsleben gewannen, noch vergrößert haben. Tatsächlich waren sie in Handel, Industrie und freien Berufen stark vertreten. Dabei haben ihnen die diskriminierenden Berufsbeschränkungen, denen sie jahrhundertelang unterworfen waren, den Eintritt bzw. Übergang in diese Bereiche erleichtert.
So ist das Bankhaus Bleichröder, an dessen Spitze der Bankier Bismarcks, Gerson Böeichröder stand, aus einer Wechselstube hervorgegangen. Auch die Berliner Kaufhäuser Wertheim, Hermann Tietz (Hertie) und KaDeWe wurden von jüdischen Kaufleuten gegründet. Im industriellen Bereich ragen der AEG-Gründer Emil Rathenau und Ludwig Loewe (Maschinen- und Waffenfabrik Ludwig Loewe) hervor. Im Verlagswesen dominierten Verleger wie Leopold Ullstein, Samuel Fischer und Rudolf Mosse die Szene. Letzterer war der Herausgeber des liberalen "Berliner Tageblattes", das im größtenteils liberalen Bürgertum zahlreiche Leser fand.
Die Neigung der preußischen Juden zum Liberalismus verkörperten Politiker wie der Mitbegründer der Nationalliberalen Partei Eduard Lasker. Diese Neigung erklärte sich aus dem Interesse der Juden an rechtlicher und faktischer Gleichstellung, die eine Grundforderung des Liberalismus war. Sie war außerdem die Ideologie des Bürgertums, dem die Mehrheit der Juden zugehörte. Sie waren optimistisch, in naher Zukunft als nicht nur gleichberechtigte, sondern auch gleichwertige Glieder des Bürgertums akzeptiert zu werden, dessen materielle und ideelle Maßstäbe ebenso wie die patriotische Gesinnung die ihren waren. Jedoch mussten sie seit Ende der siebziger Jahre erekennen, dass ihre selbstverständlichen Hoffnungen auf Widerspruch stießen.
Nachdem der religiöse Antijudaismus in den liberalen sechziger und siebziger Jahren zurückgedrängt worden war, zeigte der von Heinrich von Treitschke initiierte Berliner Antisemitismusstreit, dass die Judenfeindschaft nunmehr rassistische Züge annahm und begann, sich politisch zu äußern und zu organisieren.Diese erste Erschütterung war nur das erste Anzeichen eines weit verbreiteten Antisemitismus, der bei einigen Juden schließlich ein Abrücken von dem althergebrachten Emanzipations- und Assimilationsprojekt bewirkte. 1880 wurden die ersten bewusst jüdischen Studentenverbindungen gegründet, nachdem immer mehr Verbindungen keine Juden mehr in ihren Reihen litten. Die wichtigste dieser Alternativen wurde der Zionismus, der aber erst nach dem Ersten Weltkrieg seinen größten Einfluss entfalten sollte. Die bei weitem wichtigste Repräsentation der Juden wurde der 1893 in Reaktion auf die Wahlerfolge der Antisemitenparteien „Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“. Bereits der Name zeigt, dass der C. V. weiter fest zur vollständigen Integration der Juden in die deutsche Gesellschaft standen, nur die Konfession sollte als unterscheidendes, aber relativ unbedeutendes Merkmal übrigbleiben.
Vor dieser in den neunziger Jahren sich institutionell manifestierenden Differenzierung in Befürworter und Skeptiker im bezug auf die Erfolgsaussichten der Akkulturation, setzte sich die sich spätestens seit den vierziger Jahren deutlich abzeichnende religiöse Differenzierung fort.
So entstanden in Berlin zwei Hochschulen für die Rabbinerausbildung, nämlich die reformierte „Hochschule für die Wissenschaft des Judentums“ und das neoorthodoxe „Rabbinerseminar für das orthodoxe Judentum“. 1876 kam es im Zusammenhang mit dem Kulturkampf zur Gründung orthodoxer Austrittsgemeinden, deren Mitglieder (,die eine kleine Minderheit blieben,) nicht in der alle religiösen Richtungen umfassenden „Einheitsgemeinde“ verbleiben wollten. Trotz der Verschiedenheiten im bezug auf die Religion waren sich die Fraktionen einig über ihre offene Haltung gegenüber der deutschen Gesellschaft, und auch die Orthodoxen verbanden die Tradition mit europäischer Kultur.
Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs waren die jüdischen Bürger genauso wie alle Deutschen von nationaler Begeisterung ergriffen und dienten wie alle in der Armee.
Dennoch gab es hartnäckige Gerüchte über „jüdische Drückebergerei“, die 1916 zur berüchtigten „Judenzählung“ im Deutschen Heer führten. Die angebliche Drückebergerei blieb einer der Angriffspunkte des sich in der Weimarer Zeit ganz erheblich verschärfenden Antisemitismus. Auf der anderen Seite wurden die bis dahin praktizierten Restriktionen endlich beseitigt. Politiker jüdischer Herkunft wurden Reichsminister, von denen der Außenminister Walther Rathenau der bekannteste ist. Seine Ermordung offenbarte die Militanz rechter antisemitischer Gruppen. Der jüdische Sozialdemokrat Paul Hirsch wurde 1919 preußischer Ministerpräsident. Auch im akademischen und kulturellen Leben erlangten Juden überragende Bedeutung.