Deutsche Einheit unter Preußens Hegemonie
Das Problem der deutschen Frage, die sich durch das gesamte 19. und, in veränderter Form wiederum auch durch das 20. Jahrhundert zieht, wird schon früh mit preußischen Ambitionen in Verbindung gebracht. So erfindet eine bestimmte Schule der deutschen Geschichtsschreibung, die sogenannte kleindeutsch-borussische unter den Historikern Johann Gustav Droysen, Heinrich Sybel und Heinrich von Treitschke seit den 1840er Jahren für Preußen einen „deutschen Beruf“. Demnach hätte Preußen schon seit den Tagen Friedrichs II. alles dafür getan, einen deutschen Nationalstaat zu schaffen.
Eine solche deutsche Sendung Preußens bereits im 18. Jahrhundert gehört aber mit Sicherheit in das Reich der Legenden, denn vor 1789 interessiert sich niemand für einen deutschen Nationalstaat, schon gar nicht unter den regierenden deutschen Territorialfürsten.
Die deutsche Frage als nationales Problem ist vielmehr eine Folge der Französischen Revolution von 1789 und in deren Gefolge der napoleonischen Besetzung Deutschlands. Diese Ereignisse führen überhaupt erst zu einer Nationalisierung der Politik, dem Erwachen eines deutschen Nationalbewusstseins und einer gemeinsamen nationalen Identität sowie politisch zum Untergang des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation. Die hier skizzierten Entwicklungen machen zusammen Reformen der nationalen und politischen Verfasstheit innerhalb der deutschen Grenzen in Mitteleuropa notwendig.
Die Besonderheit der deutschen Nationalstaatsbildung des 19. Jahrhunderts liegt in der Problematik begründet, dass Deutschland zu den verspäteten Nationen zählt. Während insbesondere England, Frankreich und auch Spanien im Westen, aber auch das Russische Reich im Osten Europas bereits seit dem späten Mittelalter, die Vereinigten Staaten von Amerika im späten 18. Jahrhundert, ihre Nationalstaaten ausgebildet haben, ist dies zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Mitteleuropa noch nicht gelungen. Aufgrund der internationalen Mächteinteressen erreichen es weder Italien im Süden noch Deutschland im Norden Mitteleuropas, eine nationalstaatliche Einigung durchzusetzen. Als zusätzliches Erschwernis kommt hinzu, dass mit der aufkommenden Industrialisierung und den Folgeerscheinungen des sich herausbildenden Bürgertums, der Entstehung der Sozialen Frage und des Industrieproletariats der Nationalisierungsprozess zusätzlich mit emanzipatorischen Forderungen nach freiheitlich-bürgerlichen Rechten sowie der sozialen Verbesserung belastet wird.
Die „deutsche Sendung“ Preußens beginnt im Anschluss an die Besetzung des Landes durch Napoleons Truppen. Nach 1806 bildet sich gerade in Preußen eine Bewegung heraus, die neben der Befreiung des Lan-des vom französischen Usurpator auch weitergehende Forderungen nach einer deutschen Einigung stellt.
Dabei versteigen sich einige Vertreter der preußischen Nationalbewegung wie der „Turnvater“ Friedrich Ludwig Jahn oder der Geschichtsprofessor und Dichter Ernst Moritz Arndt, aber auch der Dichter Heinrich von Kleist oder der Philosoph Johann Gottlieb Fichte zu deutschtümelnden und aggressiv-nationalistischen Formulierungen. Allerdings muss betont werden, dass sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht die Mehrheit der Bevölkerung oder auch der öffentlichen Meinung vertreten sind.
Nach dem Sieg der alten Mächte Preußen, Österreich und Rußland gegen Napoleon und der heranbrechenden Herrschaft der Reaktion gewährt der preußische König Friedrich Wilhelm III. weder die versprochene Verfassung, noch unternimmt er irgendwelche Schritte in Richtung auf eine deutsche Einigung unter Preußens Führung. Vielmehr wird die deutsche Frage durch Preußen in der ersten Hälfte des Jahrhunderts zunächst einmal niedergehalten. Auch der Nachfolger auf dem preußischen Thron, König Friedrich Wilhelm IV., lehnt die ihm 1848/49 von der Frankfurter Nationalversammlung angebotene Kaiserkrone für ein kleindeutsch-preußisch geeintes Deutschland ab.
Er handelt zu diesem Zeitpunkt aber schon nicht mehr aus grundsätzlichen Erwägungen heraus, sondern in erster Linie wegen des Zustandekommens der Einigung durch eine parlamentarisch-demokratisch-liberale Bewegung auf revolutionärem Wege mit einer Krone, die den „Ludergeruch der Revolution“ trägt, wie Friedrich Wilhelm sie kennzeichnet.
Interessant zu verfolgen ist der Prozess, in dem Preußen plötzlich zum begehrtesten Kandidaten für eine deutsche Einigung in Mitteleuropa wird und der alten traditionellen Habsburgermacht Österreich nach und nach den Rang abläuft. Die Gründe für diese überraschende Entwicklung liegen wohl in der Tatsache, dass es der preußische König ist, der 1848 hinter der schwarz-rot-goldenen Flagge der Revolution durch Berlin reitet, wenn auch mehr gezwungen als gewollt.
Darüber hinaus stellt Preußen in Deutschland die einzige Großmacht dar, die über ein Staatsgebiet verfügt, auf dem abgesehen von den Polen in den Ostprovinzen eine überwiegend deutschsprachige Bevölkerung lebt, während Österreich ein buntes Vielvölkergemisch umfasst und bei einer nationalen Führungsrolle in Deutschland seine nicht-deutschsprachigen Gebiete hätte abtreten müssen.
Für Preußen als deutsche Hegemonialmacht bei der deutschen Einigung spricht zu diesem Zeitpunkt auch die Tatsache, dass dieses Land in seiner Rolle als europäischer Emporkömmling des 17. und 18. Jahrhunderts insgesamt im Vergleich zu Österreich einen "traditionslosen Kunststaat" darstellt, der gerade auch dadurch territorial scheinbar unbegrenzt ausdehnbar ist. Dies sollte sich in den folgenden Jahren, zumindest bis zu einem gewissen Maß, auch so bewahrheiten.
Nach der in Deutschland unter tatkräftiger Mithilfe Preußens gescheiterten Revolution von 1848/49 ist die Frage der Nationalstaatsbildung im nördlichen Mitteleuropa auf die Dauer aber nicht mehr zurückzudrängen. Nachdem auch kleinere Nationen wie Griechenland (1829), Belgien (1830/31) sowie schließlich auch Italien 1859/61 ihre unabhängigen Nationalstaaten gegründet haben, übernimmt Preußen die staatlich-politische Füh-rungsrolle innerhalb der deutschen Nationalbewegung. Ein erster Versuch einer deutschen Einigung scheitert 1850 noch am vehementen Widerstand Österreichs (Olmützer Punktation), das zu diesem Zeitpunkt noch die beherrschende Macht in Mitteleuropa darstellt. Dem seit 1862 in Preußen nach einem schweren Konflikt zwischen König und Parlament als letzter Nothelfer an die Macht gelangten Ministerpräsidenten Otto von Bismarck dagegen gelingt es, die deutsche Frage und die deutsche Nationalbewegung zu instrumentalisieren, um über diese Schiene die schwebende Konkurrenzsituation zwischen den beiden mitteleuropäischen Großmächten Österreich und Preußen zu einer Lösung zu führen.
Dabei wählt Bismarck diesen nationalen Kurs nicht in erster Linie, um endlich einen geeinten deutschen Nationalstaat in den Sattel zu heben, sondern vor allem anderen für eine Machtsicherung Preußens gegenüber der österreichischen Konkurrenz, die er angesichts der obwaltenden nationalistischen Großwetterlage nur noch auf diesem Wege zu verwirklichen sieht. Der preußische Ministerpräsident verfolgt dabei keineswegs einen genau festliegenden Stufenplan, der über drei Kriege von 1864 zielstrebig zum Deutschen Kaiserreich von 1871 führt, wie dies die preußenverherrlichende Geschichtsschreibung darstellt und es im Nachhinein scheinen mag, sondern er handelt jeweils nach den Notwendigkeiten und Gelegenheiten der Situation.
Durch diese "obrigkeitsstaatliche" Lösung der deutschen Frage lässt sich die national-demokratische Bewegung auch besser kanalisieren und die Gefahr allzu großer sozialer Veränderungen vermeiden, die bei einer stärkeren Berücksichtigung einer Volksbewegung gedroht hätte. Somit kommt diese Variante der nationalen Einigung auch den Bedürfnissen des preußisch-deutschen Bürgertums entgegen, das sich vor nichts mehr fürchtet als vor dem Schreckgespenst einer neuen Revolution.
Die Rivalität zwischen der Donaumonarchie und Preußen ist zu diesem Zeitpunkt schon über ein Jahrhundert alt und rührt aus der Zeit der Schlesischen Kriege, mit denen Friedrich II. Österreich Gebiete entreißt und der steile Aufstieg Brandenburg-Preußens beginnt, der die österreichische Großmachtdominanz in Mitteleuropa zumindest gefährdet. Durch den territorialen Zugewinn Preußens nach 1815, vor allem aber dank der wirtschaftlichen Modernisierung des Landes, in der es Österreich längst überholt hatte, sowie der Gründung des Zollvereins unter preußischer Dominanz verschärft sich die Konkurrenz-Situation insgesamt noch.
Bismarck glaubt deshalb schon 1856 als Gesandter Preußens beim Deutschen Bund in Frankfurt erkannt zu haben, dass es mit Österreich in und um Deutschland auf absehbare Zeit zu einer Auseinandersetzung kommen müsse. Dementsprechend gestaltet er seit seinem Machtantritt als preußischer Ministerpräsident 1862 seine Politik der Habsburgermonarchie gegenüber. Schon 1863 lässt er den letzten österreichischen Versuch scheitern, den dahinsiechenden Deutschen Bund noch einmal funktionstüchtig zu machen, indem er den heftig widerstrebenden König Wilhelm I. dazu überredet, an dem zu diesem Zweck angesetzten Fürstentreffen gar nicht mehr teilzunehmen. Über die Schleswig-Holstein-Frage finden zwar beide Mächte zu einem gemeinsamen Vorgehen gegen Dänemark, um sich vor der inzwischen mächtigen deutschen Nationalbewegung ordentlich in das rechte Licht setzen zu können. Indes nutzt Bismarck die gemeinsame Verwaltung von Schleswig-Holstein durch Preußen und Österreich als geeignetes Streitobjekt, um durch eine gezielte Eskalation 1866 gegen Österreich den entscheidenden Krieg um die Hegemonie in Deutschland führen zu können.
Der Sieg Preußens bei der böhmischen Festung Königgrätz lässt Europa erneut aufhorchen.Der Kardinalstaatssekretär des päpstlichen Kirchenstaates Antonelli lässt sich gar zu dem Stoßseufzer hinreißen: "Casca il mondo" („die Welt stürzt ein“). Zwar geht auf den böhmischen Schlachtfeldern 1866 noch nicht die Welt unter, doch mit der österreichischen Vorherrschaft in Mitteleuropa ist es vorbei.
Preußen erhält mit dem Frieden von Prag nicht nur einige wichtige territoriale Zugewinne (Frankfurt, Hannover, Teile Sachsens u.a.) und steigert seine Dominanz im deutschen Ländersystem noch weiter, sondern es erreicht über den 1867 ins Leben gerufenen Norddeutschen Bund mit Sachsen, den Thüringischen Staaten und Hessen (nördlich des Mains) bereits ein Kleindeutschland, dem jetzt nur noch die süddeutschen Staaten fehlen. Diese süddeutschen Länder, die 1866 noch auf der Seite Österreichs gegen die hier wenig beliebten Preußen gekämpft haben, finden sich vier Jahre später dank der inzwischen übermächtigen nationalen Bewegung auf der Seite Preußens bzw. des Norddeutschen Bundes wieder, als es darum geht, den Versuch Napoleon III. von Frankreich zu vereiteln, die endgültige preußisch-deutsche Vereinigung zu verhindern.
Nach dem Sieg über die französischen Truppen im Winter 1870/71 hat Bismarck nicht nur mit einigen süddeutschen Fürsten über die endgültige Ausgestaltung des neu zu gründenden Deutschen Kaiserreiches zu verhandeln und den bayerischen König Ludwig II. mit entsprechenden Geldzahlungen gefügig zu machen. Er muss insbesondere seinen eigenen Herrn, den preußischen König Wilhelm I. davon überzeugen, von nun an als Deutscher Kaiser zu fungieren.
Wilhelm I. ist, als er sich zu diesem Schritt endlich durchringen kann, den Tränen nahe, weil er den Untergang Preußens besiegelt sieht. Der weitere Verlauf der deutschen Geschichte sollte letztlich eher ihm recht geben als Bismarck, der für Preußen zu handeln glaubte und der Meinung war, dass Deutschland in Preußen aufgehen würde. Das Gegenteil sollte der Fall sein. Es mutet insgesamt durchaus paradox an, dass gerade der „Kunststaat“ Preußen, der mit seiner königlichen Kernregion (Ost-) Preußen am Beginn des 18. Jahrhunderts noch außerhalb des Deutschen Reiches liegt, ein Jahrhundert später den deutschen Nationalstaat ins Leben ruft.
Neben dem großen Chor der Jubler und Propagandisten des preußischen Weges der deutschen Einigung, zu denen auch die wichtigsten Historiker dieser Zeit gehören, vor allem Treitschke, Sybel und Droysen, gibt es 1871 auch Zeitgenossen, die das neue preußisch geprägte Deutsche Reich für gefährlich halten. Zu ihnen gehören der Historiker Georg Gottfried Gervinus sowie auch Friedrich Nietzsche, der in dem Sieg von 1870/71 die „Niederlage, ja Exstirpation [Auslöschung] des deutschen Geistes zugunsten des Deutschen Reiches“ zu erkennen glaubt. Ihre Äußerungen bleiben aber Einzelstimmen innerhalb der überwiegenden Mehrheit derjenigen, die sich mit der deutschen Einigung von 1871 am Ziel ihrer nationalen Sehnsüchte angekommen sehen. Aber auch die süddeutschen Staaten mit ihren teilweise liberalen Traditionen zählen zunächst zu den Verlierern der Entwicklung, denen es angesichts der realen Machtverhältnisse kaum gelingt, ihre Vorstellungen von politischer Kultur und Verfasstheit in das neue Deutsche Reich einzubringen.
Die Folgen, die die deutsche nationale Einigung unter preußischer Hegemonie für Deutschland insgesamt und für Preußen selbst in der Zukunft haben sollte, sind 1871 in ihrer ganzen Tragweite noch nicht abzusehen und in der Forschung teilweise bis heute strittig. Auf der Hand liegt aber, dass das neue Deutsche Kaiserreich von seinem mit Abstand größten und mächtigsten Gliedstaat Preußen dominiert wird. Dafür sorgt schon der föderale Charakter der Reichsverfassung, der zwar von den süddeutschen Staaten gewünscht ist und deren Selbständigkeit auch stärkt, gleichzeitig aber auch Preußens Dominanz festschreibt, die zunächst von keiner Zentralgewalt überwölbt wird. Das preußische Staatsgebiet macht zwei Drittel des gesamten Territoriums des Deutschen Reiches aus, drei Fünftel seiner Einwohner leben in der Hohenzollernmonarchie. Wie deutlich die Hegemonialmacht Preußen innerhalb des Kaiserreiches alle anderen Einzelstaaten übertrifft, zeigt die Tatsache, dass der Haushalt Preußens bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges höher ist als der des Deutschen Reiches. So betragen die Gesamtausgaben des Deutschen Reiches im Haushaltsjahr 1898 knapp 1,6 Milliarden Mark, die Preußens aber mehr als 2,3 Milliarden Mark.
Von größerer Tragweite sind aber die Folgen der deutschen Einigung unter preußischer Hegemonie für die politische Kultur in Deutschland. Durch die überragende Bedeutung, die der Einzelstaat innerhalb des Reiches einnimmt, durch die Tatsache, dass Preußen zunächst einmal einen Teil der neuen Bürokratie und des Regierungsapparates des Reiches stellt bzw. beide Verwaltungsapparate durch Personalunion verbunden sind sowie durch die Rolle, die Preußen bei der deutschen Einigung spielt, setzt sich das politische Gesamtkonzept Preußen und seine politische Kultur auch in vielen Teilen des neuen Kaiserreiches durch. Die „ Verpreussung“ Deutschlands zeigt sich u. a. in der politischen Haltung des Großbürgertums, das mit dem Adel gegen Arbeiterbewegung, Parlamentarismus und demokratische Mitwirkungsrechte der Bevölkerung ein Bündnis eingeht. Dazu gehört des weiteren der teilweise gelungene Versuch, die politische Untertanenkultur Preußens auf die Reichsebene zu übertragen und eine freie Staatsbürgerkultur auf der Basis der Freiheit zu verweigern. Weitere Symptome dieser Entwicklung sind die allgemeinen Militarisierung des Bildungsbürgertums sowie in deren Gefolge einer „Verpreussung“ auch des deutschen Geschichtsbildes (Preußen-Mythos).