Potsdam und Berlin - Preußens rivalisierende Hauptstadtschwestern
Den Aufstieg des brandenburg-preußischen Staates an die Spitze der europäischen Großmächte vollziehen die Hauptstadt Berlin und die Residenz Potsdam in gewisser Weise spiegelbildlich mit. Zwar verfügen auch die brandenburgischen Kurfürsten mit Berlin bereits seit dem 15. Jahrhundert über einen Verwaltungsmittelpunkt. Dennoch gibt es noch weitere zentrale Orte des preußischen Staates, die als Residenz für die Herrscherfamilie und damit immer auch für einen Teil des Verwaltungsapparates dienen. Dazu gehören in Brandenburg lange Zeit solche Örtlichkeiten mit Schlössern oder Jagdsitzen der Hohenzollern wie Joachimsthal, Königs Wusterhausen oder auch das kleine Haveldorf Paretz, im preußischen Rahmen zählen Königsberg oder Kassel in gewisser Weise auch zu dieser Reihe.
Dennoch kristallisieren sich Berlin als Residenz und Hauptstadt sowie Potsdam als seit dem 17. Jahrhundert wichtigste Nebenresidenz, die zu bestimmten Zeiten dann auch zur Hauptresidenz oder zumindest zum Hauptaufenthaltsort des Herrschers werden konnte, als die beiden wichtigsten Herrschaftsmittelpunkte der preußischen Monarchie heraus. Mit dem Aufstieg Brandenburg-Preußens profitieren beide Städte von dem wachsenden Repräsentationsbedürfnis seiner Herrscher und dem Einrichten immer neuer Schlösser, Repräsentations- und zentralstaatlicher Verwaltungsbauten der einzelnen Monarchen oder hohenzollernschen Familienmitglieder im Laufe der Jahrhunderte.
Dieser Prozess vollzieht sich zwischen den beiden preußischen Hauptstadtschwestern dann aber doch in unterschiedlicher Ausprägung. Berlin entfernt sich teilweise schon im 18., auf jeden Fall dann aber im 19. Jahrhundert von seiner Orientierung auf den Hof und die ausschließliche Abhängigkeit von seinem Hauptstadtstatus, erfährt hinsichtlich seiner städtischen Bedeutung eine Diversifizierung und erlangt eben auch als Wirtschafts- oder Kulturmetropole große Bedeutung. Potsdam bleibt dagegen insgesamt doch deutlich stärker auf die Residenz des Hohenzollernstaates als preußische Hof-, Militär- und Beamtenstadt reduziert. Die Havelstadt saugt damit die Elemente, die gemeinhin mit dem "Preußentum" verbunden werden, gewissermaßen in Reinkultur in sich auf, allerdings auch mit der Konsequenz, auf Gedeih und Verderben mit den Geschicken des Preußenstaates verbunden zu sein. „Potsdam, aus dem schließlich alles stammt oder doch das meiste...“ , wie Fontane es in Bezug auf die Verortung preußischen Wesens ausdrückt.
Wie es zu dieser engen Verbindung kommt und in welchen Schritten die Residenzgeschichte Potsdams und Berlins sich dabei vollziehen, wie Potsdam zur königlichen Residenz bei der Hauptstadt Berlin wird so wie dies in ähnlicher Form bei Versailles zu Paris in Frankreich sowie im Falle Windsors zu London in England bereits vorher geschehen ist, wird hier näher beleuchtet.
Die Geschichte Berlins und Potsdams als Hauptstadt bzw. Residenz Brandenburg-Preußens hängt selbstverständlich auf das engste mit den Interessen der Hohenzollern hinsichtlich ihrer bevorzugten Aufenthaltsorte insgesamt sowie den Besonderheiten einzelner Herrscherpersönlichkeiten im Besonderen zusammen. Dabei liegen die Anfänge der Residenz und Hauptstadt Berlin im Mittelalter. Berlin-Cölln stellt schon im 13. und 14. Jahrhundert einen der bevorzugten Aufenthaltsorte der brandenburgischen Markgrafen und Kurfürsten dar, die in dieser Zeit noch durch das Land reisend ihre Herrschaft auszuüben versuchen. Berlin ist dabei allerdings weder die einzige noch die am häufigsten besuchte Stadt, sondern steht in Konkurrenz mit einigen andern zentralen Städten in Brandenburg, insbesondere mit dem altmärkischen Tangermünde.
Ende des 15. Jahrhunderts, als sich auch in anderen deutschen Regionen in den sich herausbildenden Territorialstaaten zentralstaatliche Behörden entwickeln, wählen auch die brandenburgischen Kurfürsten aus dem Hause Hohenzollern sich einen einzigen Herrschaftsschwerpunkt aus: es ist die Doppelstadt Berlin-Cölln an der Spree mit (1450) gerade einmal etwa 6.000 Einwohnern. Das der Stadt 1442 nach einem Streit innerhalb der Stadt, vom Kurfürsten aufgezwungene Stadtschloss wird im 16. und 17. Jahrhundert nach und nach zu einer repräsentativen Anlage ausgebaut.
Während Berlin also schon seit dem Mittelalter eine wachsende Mittelpunktsfunktion ausbildet, die die Stadt an der Spree schließlich zur Hauptstadt zunächst von Brandenburg werden lässt, stellt Potsdam bis in das 17. Jahrhundert hinein ein kleines unbedeutendes mittelmärkisches Nest mit einem spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Burgschloss dar. Der eigentliche Anfang der Residenzgeschichte Potsdams hängt mit dem Interesse zusammen, das Friedrich Wilhelm, schon seit 1646 für das wasserreiche Gebiet um Potsdam gewinnt. Er wendet sich deshalb vom spröderen Grimnitz bei Joachimsthal ab, das unter Kurfürst Joachim Friedrich noch die beliebteste Landresidenz der brandenburgischen Kurfürsten außerhalb Berlins darstellt. Auch der Bau von Schloss Oranienburg 1650 für die erste Frau des Großen Kurfürsten, der Holländerin Luise Henriette, bleibt Episode.
Die Wahl fällt vor allem deshalb auf Potsdam, weil die kleine Stadt an der Havel durch die zahlreichen seenartigen Erweiterungen des Flusses, von denen sie umgeben ist, für Friedrich Wilhelm einen attraktiven Standort für eine zweite Residenz außerhalb der Hauptstadt Berlin darstellt, die zudem noch im Bereich einer Tagesreise zu Pferd liegt. Das Gebiet um Potsdam soll nach den Vorstellungen des Kurfürsten ähnlich wie Kleve gartenkünstlerisch und landschaftlich gestaltet werden. Dabei werden die Pläne Friedrich Wilhelms für die „Insel Potsdam“ vor allem von seinem Statthalter in Kleve, dem weitgereisten Johann Moritz von Nassau-Siegen beeinflusst, der in einem Brief 1664 empfiehlt: „Das gantze Eyland muss ein Paradis werden“. Dies wird in den nächsten zweieinhalb Jahrhunderten in einer einzigartigen Genese tatsächlich verwirklicht. Das an der Havel gelegene alte und zerfallene Schloss der Kurfürstin Katharina wird seit 1660 erst einmal notdürftig instandgesetzt und dann nach und nach von den Hofarchitekten Memhardt und de Chièze nach holländischem Vorbild umfassend neu gestaltet. Als sich der Große Kurfürst 1661 zum ersten Mal längere Zeit in Potsdam aufhält, zählt der Fischerflecken im Havelland ganze 200 Wohnstätten, von denen als Folge des Dreißigjährigen Krieges nur noch 80 bewohnt werden, der Rest liegt „wüst“.
Das wesentlich größere Berlin wird ebenfalls durch stadtplanerische Maßnahmen des Großen Kurfürsten vor allem durch die Anlage von Neustädten (Dorotheen-, Friedrichstadt u.a.) ausgebaut.
In der Zeit der Herrschaft des Sohnes des Großen Kurfürsten, Friedrich III., der sich seit der Krönung in Königsberg König Friedrich I. in Preußen nennt, wird eher die Hauptstadt an der Spree wieder stärker gefördert als die Potsdamer Nebenresidenz. In der Regierungszeit dieses ersten Königs in Preußen, die insgesamt wegen der Verschwendungssucht des misswüchsigen Herrschers von den Historikern nicht besonders günstig beurteilt wird, erfährt Berlin einen mehrfachen Entwicklungsschub. Die Stadt erhält mit der Errichtung der Akademie der Künste (1696) und der von dem Universalgenie Gottfried Wilhelm Leibniz inspirierten Akademie der Wissenschaften (1700) zwei wichtige Institutionen im kulturell-wissenschaftlichen Bereich, die für die Zukunft der Stadt und des Staats bedeutende, weltweite anerkannte Forschungsergebnisse liefern werden.
Unter Friedrich I. wird das Berliner Stadtschloss von dem genialen Danziger Baumeister Andreas Schlüterin einen der schönsten Schlossbauten nördlich der Alpen umgewandelt. Es übertrifft zu Beginn des 18. Jahrhunderts das Potsdamer Stadtschloss an Pracht und Größe weit und ist für die damaligen Verhältnisse selbst für das städtebauliche Gefüge Berlins reichlich überdimensioniert. Darüber hinaus wächst aber auch die Einwohnerzahl Berlins unter Friedrich I. so stark wie in dieser Zeit nirgendwo in der bekannten Welt: in nur 25 Jahren verdreifacht sich die Einwohnerzahl von Preußens Hauptstadt von 20.000 auf etwa 60.000 Einwohner. Doch auch in Potsdam lässt Friedrich I. das Stadtschloss im französischen Stil ausbauen und erweitern.
Der eigentliche Begründer des besonderen Nimbus von Potsdam ist aber Friedrich Wilhelm I., der Soldatenkönig. Er ist der erste preußische König, der bewusst aus der langsam zur Großstadt mutierenden Berliner Residenz flieht und sich in Potsdam ein nach seinen ureigenen Grundsätzen gestaltetes Idealbild einer preußischen Stadt gestaltet. Zuerst wandelt er Potsdam, das unter seiner Herrschaft zu einer Immediatstadt herabsinkt, in eine riesige Garnison um.
Die bald errichteten Neustädte plant und entwickelt er als Bürger- und Soldatenstadt, die jeweiligen Besitzer müssen in den ihnen vom König geschenkten Häusern vier Soldaten Unterkunft gewähren. Unter ihm hält das Militär Einzug in die Stadt, auch in der etwas obskuren Form der immer zahlreicher werdenden " langen Kerls". Potsdam wird in der Zukunft geradezu zum Sinnbild für das preußische Militär, aber auch für den preußischen Militarismus. Der Seelsorger der katholischen Soldaten in Potsdam, Pater Bruns, schildert die allerdings wenig beneidenswerte Lage der aus allen Herren Ländern zusammengesuchten Soldaten des Soldatenkönigs in seiner größten Kaserne, die Potsdam heißt:
„Die durch Gewalt und List angeworbenen Soldaten waren wirklich oft in einer verzweifelten Lage; entfliehen konnten sie nicht und frei werden konnten sie auch nicht. Daher stürzten sich viele ins Wasser und ertränkten sich; andere verstümmelten sich, erhängten sich oder töteten sich sonst auf eine andere Weise. Andere, des Lebens überdrüssig, ermordeten einen Kameraden, damit sie hingerichtet würden. Diese Letzteren ließ der König Spießruten laufen oder von unten nach oben rädern.“
Gleichzeitig wandelt der Soldatenkönig Potsdam aber auch in eine wichtige Gewerbestadt um, die vor allem im Bereich der Gewehrfabrikation und der Textilproduktion, insbesondere der von Seide, neben Berlin eigenständiges Gewicht erhält. In seiner Regierungszeit wächst die Zahl der Häuser in Potsdam zwischen 1713 und 1738 von 199 auf 1.163, die der zivilen Einwohner von 1.500 auf 11.305. Das Nest an der Havel wird durch die barocken Stadterweiterungen Friedrich Wilhelms I. überhaupt erst zu einer richtigen Stadt. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts sind übrigens sowohl Berlin als auch Potsdam durchaus „Multi-Kulti-Städte“, denn dank der großzügigen und wirtschaftlich notwendigen Einwanderungspolitik der preußischen Könige tummeln sich in beiden Städten große Gemeinden eingewanderter Minderheiten und wirtschaftlicher Spezialisten samt ihrer Angehörigen und leben mit den deutschen Einwohnern in erstaunlicher Eintracht.
Sowohl der Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. als auch sein Sohn Friedrich II., der Große, bauen die preußische Hauptstadt Berlin weiter aus.
Friedrich Wilhelm etwa leitet eine gezielte Gewerbeförderung ein und sorgt für eine weitere bedeutende barocke Stadterweiterung mit einer neuen Akzisemauer. Friedrich II. lässt die Hauptstadt mit dem großartigen Forum Fridericianum ebenfalls weiter ausbauen, in seiner Regierungszeit überschreitet Berlins Einwohnerzahl 1747 zum ersten Mal die Grenze von 100.000 und ist nach Wien die zweitbedeutendste Stadt im Deutschland. Berlin entwickelt sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts zu einem der wichtigsten Gewerbezentren in Deutschland, allmählich sogar in Europa und erfährt mit das größte gewerblich-industrielle Wachstum, das Städte in diesem Zeitraum überhaupt erreichen. Um 1800 sind bei ungefähr 180.000 Einwohnern allein etwa 50.000 Arbeiter in den Manufakturen in der preußischen Hauptstadt beschäftigt.
Sicher auch deshalb liebt Friedrich II. das aufmüpfige und widerspenstige Berlin nicht sonderlich. „Das Landleben sagt mir tausendmal mehr zu als das Stadt- und Hofleben“, schreibt er an seine Schwester Wilhelmine. Friedrich II. erweitert die Residenzfunktion Potsdam durch den Ausbau seiner königlichen Vorstadt Sanssouci.
Mit der Errichtung des gleichnamigen Sommerschlosses, „meinem Lusthaus in den Weinbergen“, wie Friedrich sein neues Potsdamer Sommerschloss nennt, dem nach dem Siebenjährigen Krieg errichteten Neuen Palais und den Anfängen der ausgedehnten Parklandschaft ist er der Initiator einer Schloss- und Parklandschaft, die sich durch die Erweiterungen seiner Nachfolger auf dem preußischen Thron im nächsten Jahrhundert zu einer weltweit einmaligen Ensemblekunst barocker Herrschafts- und Parkarchitektur entwickelt. Friedrich II. ist deshalb als der zweite Schöpfer des preußischen Mythos Potsdam zu sehen. Er erweitert die militärisch-staatliche Komponente der Stadt um eine kulturell-künstlerische, wozu auch sein Umgang mit dem Philosophen Voltaire und anderen Geistesgrößen in Sanssouci sowie sein abendliches Kulturprogramm mit der Wiedergabe seiner selbstkomponierten Flötenkonzerte im Konzertzimmer von Schloss Sanssouci gehören. Unter dem König, Flötenspieler und Philosoph von Sanssouci in einer Person erlebt Potsdam die wohl größte Blüte und den klassischen Höhepunkt seiner Funktion als preußische Residenz.
Gleichwohl kann die Berlin-Potsdamer Residenz- und Kulturlandschaft, so prächtig sie im 18. Jahrhundert gerade durch das ganz persönliche baukünstlerische Engagement Friedrichs II. auch herangewachsen ist, mit den alten deutschen Kulturzentren Wien und Dresden noch nicht mithalten.
Während Berlin als wichtigster Gewerbeort der preußischen Monarchie durch die Industrialisierung des frühen 19. Jahrhunderts sowie zunehmend auch als Stadt der Wissenschaft ( Universität, die wichtigsten preußischen Forschungseinrichtungen) eine weitere Beschleunigung seiner Entwicklung erfährt und auch mit den Frühformen der Proletarisierung konfrontiert wird, setzen die Preußenkönige ihren Ausbau der Nebenresidenz Potsdam auch im frühen 19. Jahrhundert fort. Unter Friedrich Wilhelm III. und Friedrich Wilhelm IV. wird die Schlosslandschaft Potsdam gerade auch als überblickbarer und harmonischer Gegenort zum dynamisch-chaotischen Berlin und allgemein der bürgerlich-industriell beschleunigten Gesellschaft mit einer antik-italienischen Sehnsuchtslandschaft in ein havelländisches Arkadien verwandelt, das seinesgleichen sucht. Mit Schinkel und seinen Schülern Persius und Stüler sowie den Gartenkünstlern Lenné und Pückler-Muskau können die preußischen Könige für diesen Zweck geniale Künstler heranziehen, wie es sie in dieser Konstellation und im Zusammenwirken an einem Ort nicht oft gibt. Die errichteten Gebäude erreichen zwar nicht mehr die Dimensionen wie noch unter Friedrich II., dafür aber menschlichere Gebäudekörper und eine architektonisch-landschaftsgestalterische Einpassung und Stimmigkeit, die wesentlich zum heutigen Gesamtzauber des Potsdamer Ensembles beiträgt.
Allerdings prägen sich jetzt auch deutlich die Unterschiede zwischen der zu einer Metropole heranwachsenden Stadt Berlin als Hauptstadt und der Nebenresidenz Potsdam aus. Während Berlin sich zu einer vielschichtigen Großstadt mit einem bedeu-tenden Gewerbe- und Industrieanteil sowie einer eigenständigen kritischen Öffentlichkeit entwickelt, die auch deutlich im Gegensatz zum Königshaus steht, wird die Bedeutung Potsdams immer mehr auf die residenziale Sphäre des Hofes und des damit zusammenhängenden Beamtentums und Militärs reduziert.
Als 1848 in Berlin die Barrikaden brennen, die Revolution tobt und König Friedrich Wilhelm IV. gezwungen wird, sich vor den Toten der Märzrevolution zu verbeugen, werden in Potsdam eher gemäßigte Positionen vertreten, wenn es auch nicht an kleineren Unterstützungsaktionen für die Revolution wie die Zerstörung von Eisenbahnschienen zum Verhindern von Truppentransporten mangelt. Potsdam wird insgesamt eher zum gegenrevolutionären Zentrum der Armee und des Adels. Die preußische Residenz an der Havel ist im übrigen jetzt bevorzugter Wohnsitz von Adel und Beamtenschaft sowie endgültig eine Kultstätte der Armee, zudem geprägt von der Langeweile einer großen Kaserne und des stupiden, immer gleich ablaufenden Hoflebens.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts haben sich die Rollen verfestigt, die beide Städte innerhalb der zentralstaatlichen Verwaltung Preußens spielen. Berlin emanzipiert sich immer mehr vom Hof als dem einst wichtigen Impulsgeber für die eigene Entwicklung und wird zu einer pulsierenden Metropole, in der immer mehr liberale, sozialdemokratische sowie andere Reformkräfte das politische Klima zu bestimmen beginnen. Allerdings profitiert Berlin auch weiterhin in hohem Maße von der Hauptstadt- und Residenzfunktion in Preußen. Beinahe die gesamte reichhaltige Museums- und Wissenschaftslandschaft im Berlin des 19. Jahrhunderts verdankt die Hauptstadt dem preußischen Staat. In Berlin fühlt sich auch Kaiser Wilhelm II. nicht sonderlich wohl, der sich ebenfalls lieber in seine geliebte Militärstadt Potsdam zurückzieht. Dort konzentriert sich allerdings inzwischen eine Elite von Adel und Militär, die eine besonders antiquierte Form des preußischen Dünkels entwickelt hat. Die Haltung dieses Adels, eine „Mischung von Borniertheit, Dünkel, Selbstsucht“ habe den „Charakter des Unverschämten“ angenommen, notiert 1894 der scharfsichtige Kritiker des Borussismus und bekennende Preuße Theodor Fontane.
In Potsdam werden auch einige preußische Wissenschaftsreinrichtungen angesiedelt, die in Berlin inzwischen keinen Platz mehr finden, wie z. B. die naturwissenschaftlichen Einrichtungen auf dem Telegraphenberg (mit dem später errichteten Einsteinturm) oder auch die im späten Kaiserreich entstehende Filmstadt in Babelsberg.
Der Untergang der Hohenzollernmonarchie 1918 entzieht Potsdam denn auch beinahe alles das, was die Stadt seit zweieinhalb Jahrhunderten ausgemacht hat. Berlin, zumal seit 1920 als Groß-Berlin mit knapp vier Millionen Einwohnern inzwischen eine der größten Städte der Welt, ist zum eindeutigen und alleinigen Zentrum Deutschlands und Preußens herangewachsen. Es entwickelt sich mit seiner wirtschaftlichen, verwaltungsmäßigen und kulturellen Glanzzeit zu einer Weltmetropole, in der sich jetzt der wichtigste Teil des öffentlichen Lebens der jungen Republik abspielt und eine neue Stufe der Zivilisation und des demokratischen Republikanismus erreicht ist.
Potsdam dagegen stellt eher, zumindest an der Oberfläche und nach außen ein museales Abbild der alten untergegangen preußischen Monarchie dar. Die Beisetzung der letzten Kaiserin Auguste Viktoria am 19. April 1921 im Park von Sanssouci setzt insofern einen eklatanten Schlusspunkt unter eine lange und glanzvolle Geschichte als Nebenresidenz. Auch die Ergebnisse der Reichstagswahlenin beiden Städten sprechen eine deutliche Sprache: während die NSDAP in Berlin bei den Wahlen Anfang 1933 nur 35%, SPD und KPD zusammen aber noch 47% der Stimmen erreichen, wählt Potsdam zu diesem Zeitpunkt bereits mit 44% die NS-Partei, während die beiden linken Parteien nur noch auf 25% der Stimmen kommen.
Aber die alten Geister kehren noch einmal wieder. Am 21. März 1933 steht ein Teil des alten preußischen Potsdam plötzlich wieder im grellen Licht der politischen Bühne, jetzt allerdings vollends als Operettenaufführung des Staatsintendanten Goebbels. In einer Inszenierung des NS-Propagandaministers wird an diesem Tag der Reichstagseröffnungein Schmierenstück gegeben, das den Titel trägt: das alte, großartige Preußentum in der Gestalt des alten greisen Feldmarschalls Hindenburg verbündet sich mit der braunen, nationalen Revolution, oder, wie es Hitler ausdrückt, es vollzieht sich die Vermählung "zwischen den Symbolen der alten Größe und der jungen Kraft"
Die Nationalsozialisten wählen sich für dieses Propagandameisterwerk nicht zufällig die Potsdamer Garnisonkirche als Ort, der am eindeutigsten für das alte, glorreiche Preußen steht. Die parade- und marscherfahrene Potsdamer Garnison legt sich mächtig ins Zeug, um an der Legitimierung des neuen Regimes einschließlich seiner bereits das Land überziehenden Terror-Methoden mitzuwirken. So läutet der Tag von Potsdam als "Rührkomödie" den Abschied vom Verfassungs- und Rechtsstaat ein, der zwei Tage später mit der Annahme des Ermächtigungsgesetzes auch durch die bürgerlichen Parteien im Reichstag abgesegnet wird. Die Komödie in der alten Hohenzollernresidenz ist das Signal an die alten Eliten, sich für die Zukunft des neuen "Großdeutschlands" zu öffnen und in der deutschen Bevölkerung mit ihrem "konventionellen Borussismus" und Militarismus (Friedrich Meinecke) insgesamt eine rauschhafte Atmosphäre des Aufbruchs zu erregen. Gleichzeitig versuchen die Nationalsozialisten mit dem Bezug auf die „heiligste Stätte des Preußentums“ eine historische Legitimierung zu erreichen, was ihrer Propagandamaschine nachweislich hervorragend gelingt.
Doch auch hier wird deutlich, dass es immer noch das andere Preußen gibt und dieses sich auch in der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur bemerkbar macht. Der größere Teil des alten Potsdam, insbesondere seine alten Eliten aus Beamtentum, Bürgertum und Militär, begrüßen den scheinbaren Neubeginn deutscher Größe mit der nationalsozialistischen Machtergreifung. Dazu gehört zunächst auch die Nachfolgeeinheit des alten preußischen 1. Garderegiments zur Fuß von 1907, das seit 1920/21 als „9. (Preußisches) Infanterie-Regiment“ in die Reichswehr integriert und weiterhin in Potsdam beheimatet ist. Mit dem Zusammenbruch der Hohenzollernmonarchie 1918 als preußisches Garderegiment zunächst heimatlos geworden, ist das Regiment im darauffolgenden Winter bei den Kämpfen im Berliner Regierungs- und Zeitungsviertel bei der brutalen Niederschlagung des Spartakisten-Aufstandes sowie 1932 bei der Absetzung der vorbildlich-demokratischen Regierung in Preußen unter Ministerpräsident Otto Braun beteiligt. So überrascht es nicht, dass die Angehörigen des Regiments den nationalsozialistischen Machtantritt 1933 einhellig begrüßen. Doch im Laufe der nationalsozialistischen Herrschaft mit der Zunahme der Verbrechen und dem drohenden Untergang des Deutschen Reiches im Zweiten Weltkrieg setzt sich bei der wegen seiner überwiegend mit Adligen besetzten Offiziersstellen auch als Regiment „Graf Neun“ verspotteten Einheit die andere Seite der preußischen Tugenden durch. Gemäß der Losung ihres Helmspruches, dem „semper talis“, also immer gleich im Sinne vom Festhalten an den alten preußischen Tugenden der Pflichterfüllung und des Gehorsams, sehen einige Mitglieder dieser alten preußischen Eliteeinheit die Notwendigkeit gekommen, entgegen ihrem auf den Führer geleisteten Eid Widerstand gegen das Hitler-Regime zu leisten. Zu den Offizieren des I. R. 9, das zwar auch im Dritten Reich eines der erfolgreichsten Regimenter der gesamten Wehrmacht darstellt, aber dennoch nie den Rang einer Garde des NS-Systems einnimmt, gehört beispielsweise Carl-Hans Graf von Hardenberg. Er begründet die Notwendigkeit, gegen die nationalsozialistische Diktatur in Deutschland aufzustehen, folgendermaßen: „Es galt mit allem zu brechen, was mit der Ehre eines preußischen Soldaten verbunden war“, vor allem mit dem Treuegelöbnis. Dabei mussten „Besitz, Familie und Stammesehre in die Waagschale geworfen werden.“
Somit ist Potsdam dank des bedeutenden Widerstandspotentials von Teilen des noch in preußischen Traditionen stehenden Militärs gegen die NS-Tyrannei immerhin doch noch mit einem positiven Beitrag selbst in der dunkelsten Zeit der verkorksten deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts vertreten.
Eine pikante Ironie der Geschichte stellt die Tatsache dar, dass der Abgesang auf das alte Preußen in seiner heimlichen Hauptstadt Potsdam stattfindet. Obgleich der preußische Staat bereits mit der Weimarer Republik und vollends im Dritten Reich in einem Siechtum begriffen ist, bedeutet die Potsdamer Konferenz der alliierten Hitler-Gegner im Sommer 1945 das endgültige Ende für den preußischen Staat, der folgerichtig zwei Jahre später per alliiertem Kontrollratsbeschluss auch juristisch begraben wird.
Potsdam bleibt zunächst Bezirkshauptstadt in der DDR, obgleich kleine Hauptstadt eines kleinen Bundeslandes des wiedervereinigten Deutschlands, eher ein zu besichtigendes Museum der vergangenen preußischen Herrlichkeit, wenngleich es teilweise als kleine (und nach eigenem Selbstverständnis) feine Schwester der großen Metropole Berlin durchaus wieder einige repräsentative Hauptstadtfunktionen des neuen vereinigten Deutschlands abbekommt.
Letztlich profitieren Berlin und Potsdam als Hauptstadt bzw. zweite Residenz des preußischen Staates ganz erheblich von dieser Funktion. Durch die jahrhundertelange Konzentration des brandenburg-preußischen Herrscherhauses, das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch noch zur herrschenden Dynastie von Gesamt-Deutschland wird, auf diese märkische Kernregion werden riesige Summen des Staatshaushaltes in den Ausbau der Residenzlandschaft um Berlin gesteckt. Die Hauptstadt Berlin nimmt aber bereits seit dem 18. Jahrhundert immer mehr die Dimensionen einer vielfältigen Hauptstadt und Metropole zunächst Deutschlands, dann in europäischen Zusammenhängen an, die bald auch ohne die höfisch-residenzielle Antriebsfeder pulsiert. Potsdam dagegen bleibt in überschaubaren und bewusst idyllisch gehaltenen Verhältnissen auf die engeren Aufgaben einer Residenz beschränkt. Am deutlichsten wird dies mit dem Untergang der überlebten Hohenzollern-Monarchie 1918: während Berlin gerade in den zwanziger Jahren auf den Höhepunkt der Modernität und Fortschrittlichkeit seiner Stadtentwicklung gelangt und zu einer Weltmetropole aufsteigt, verbleibt Potsdam eher als großer begehbarer Museumspark vergangener preußischer Herrlichkeit erhalten. Potsdam erhält auf diese Weise den Nimbus eines besonderen preußischen Ortes, der ein Identifikationsobjekt, ein Symbol des gesamten preußischen Staates darstellt.
Der viel zitierte Geist von Potsdam und die Gestalt der Stadt selbst verkörpern den Mythos Preußen sicherlich so deutlich, wie dies überhaupt nur an einem Ort geschehen kann. Die mit Potsdam insgesamt eher negativ verbundenen Seiten der preußischen Geschichte sind jedenfalls ein Normativ, wenn es auch immer, leider eher marginal und isoliert, auch das „andere Potsdam“ (Günter Wirth) eines Storm, Helmholtz, Einstein oder Hermann Kasack gegeben hat.
Durch diese einzigartige Verbundenheit mit dem preußischen Staat erwachsen Potsdam sowohl eine schwere historische Hypothek als auch weltweite Anerkennung. Mit dem Geist von Potsdam wird wohl auf der ganzen Welt die Stadt des übersteigerten Militarismus, die reaktionäre Residenz von Militär, Hof und Beamten, mit dem „Tag von Potsdam“ die Inthronisierung der NS-Machthaber in scheinbar legitime Tradition der deutschen Geschichte und mit der Potsdamer Konferenz die Besiegelung der deutschen Niederlage 1945 verbunden. Diese Traditionsstränge veranlassen George Bernard Shaw, die Stadt an der Havel am liebsten „ausgelöscht“ zu sehen.
Die SED-Fürsten vollziehen nach 1945 mit dem Abriss eines Teils der architektonischen Überreste genau diese Forderung und zerstören die Stadt mit ihren gewachsenen vielfältigen Sichtachsen durch die grauenhaften Plattenbau-Wohnsilos und die obligatorischen und willkürlichen sozialistischen Magistralen in der Innenstadt. Auf der anderen Seite steht die weltweit einzigartige, als imposantes Gesamtkunstwerk gestaltete Natur- und Kulturlandschaft von Potsdam für die andere, die von kultureller Offenheit und Kunstsinn gekennzeichnete Seite Preußens. Zwar hat Potsdam außer vielleicht mit Schloss Sanssouci sowie Schinkels Schloss Charlottenhof keine „große“, maßstabsetzende eigenständige Architektur hervorgebracht, alles ist vielmehr hier und da geborgt, umverwandelt und geschickt in die prächtige Naturlandschaft eingefügt. Aber dennoch ist Potsdam als kultur- und architekturgeschichtliche Perle Preußens als Gesamtkunstwerk nicht umsonst in das noble Feld des Unesco-Weltkulturerbes aufgenommen worden. Auf diese Weise verklärt Potsdam den Deutschen die Hauptstadt Berlin durchaus, in deren Schatten die Havelstadt vom Beginn ihrer Beziehungsgeschichte an steht. Mit diesem Pfund kann die brandenburgische Landeshauptstadt auch heute, in den Zeiten des touristischen Stadtmarketings, wuchern, die im Vergleich zu den Berliner Diskussionen größere Bereitschaft zum Wiederaufbau von Stadtschloss und Garnisonkirche verdeutlichen dies. So bietet Potsdam heute als ein quasi im Reagenzglas erhalten gebliebenes Stück Preußens in Reinkultur sowohl Herausforderung als auch Chance für die Stadt, mit der sie sich auseinanderzusetzen hat.