Repression und Fortschritt - Zur politischen Kultur und den sozialen Verhältnissen in Preußen im 19. und 20. Jahrhundert
Sicherlich zählt Preußen zu den repressiv-reaktionären Mächten Europas in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, das durch eine militärische Lösung in der zweiten Hälfte die deutsche Frage in Mitteleuropa nicht unter aktiver politischer Beteiligung des Bürgertums, sondern von oben beantwortet. Es trägt auf diese Weise einen wesentlichen Anteil an der innenpolitischen Zerrissenheit der politischen Kultur des deutschen Kaiserreiches.
Auf der anderen Seite gibt es auch innerhalb der preußischen Staatsbürokratie innovative und fortschrittliche Züge, die sich nicht nur in einer maßstabsetzenden Bildungs- und Wirtschaftspolitik sowie rechtsstaatlichen Tendenzen zeigen, sondern die den Freistaat Preußen in der Weimarer Zeit sogar eines der wenigen funktionierenden Demokratiemodelle des Deutschen Reiches verwirklichen läßt. Außerdem besteht die Geschichte Preußens, wie dies für Geschichte überhaupt der Fall ist, nicht nur aus den staatlichen Behörden mit den Monarchen und Politikern an der Spitze. Es gibt immer auch ein „anderes“ Preußen, das neben der oder sogar im Gegensatz zur staatsbürokratischen, offiziellen Politik wirksam ist und insofern seinen Beitrag zum Gesamtphänomen Preußen leistet und als solches auch wahrzunehmen ist. Diese Janusköpfigkeit der politisch-sozialen Kultur des größten deutschen Einzelstaates ist deshalb ein wesentlicher Bestandteil des „Mythos Preußen“ und es stellt sich immer die Frage, welches der vielen Existenzformen Preußens im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts jeweils gemeint ist.
Dabei knüpft Preußen zu Beginn des 19. Jahrhunderts zunächst durchaus an die fortschrittliche Rolle an, die es im 17. und 18. Jahrhundert gespielt hat. Die Französische Revolution, die das neu hereinbrechende bürgerliche Zeitalter einläutet, und insbesondere die Niederlage der preußischen Armee gegen das Volksheer Napoleons veranlassen die staatsleitende Elite Preußens, sich dem Zug der Zeit anzuschließen. Es wird ein breit angelegtes Reformpaket geschnürt, das den alten Feudalstaat begraben und den Grundstein für ein neues Staats- und Gesellschaftssystem legen soll, auf das die bald einsetzende Industrialisierung mit allen ihren verändernden Folgeerscheinungen aufbauen konnte.
Seit der späten Regierungszeit Friedrichs II. hatte sich ein Reformstau gebildet, der jetzt abgetragen werden musste. Allerdings stellt Preußen zu diesem Zeitpunkt noch ganz überwiegend ein Agrarland dar. Im Jahr 1816 leben gerade einmal 5,9% der preußischen Bevölkerung in Städten mit mehr als 20.000 Einwohnern, 1871 sind es bereits 13,2%, 1910 dagegen schon 37,1%. Das aufstrebende Bürgertum spielt noch nicht wie in Frankreich eine prägende Rolle; eine revolutionäre Situation ist in Preußen überhaupt nicht gegeben. Deshalb werden die Reformmaßnahmen auch nicht in ausreichendem Umfang von unten gefordert, sondern von oben, von der Staatsspitze, initiiert und durchgeführt. Der Preußische Staat selbst und seine reformorientierte Verwaltungsspitze stehen zu diesem Zeitpunkt mangels bürgerlicher Reformkräfte selbst an der Spitze des Fortschritts.
Die von den preußischen Ministern Stein und Hardenberg konzipierten Reformen der Jahre 1807 bis 1820 entfalten allerdings eine unterschiedliche Wirksamkeit. Am erfolg- und folgenreichsten erweisen sich noch die Veränderungen im Bereich der Wirtschaft. Durch die Gewerbereform von 1810/11 wird die vollständige Gewerbefreiheit verwirklicht und die erfolgreiche Zollpolitik der folgenden Jahre mit der Beseitigung der Binnenzölle schafft frühzeitig einen einheitlichen preußischen Wirtschaftsraum, der wesentlich zum wirtschaftlichen Aufstieg Preußens in den folgenden Jahrzehnten und damit zur preußischen Hegemonie in Mitteleuropa beiträgt. Auch die Einführung der Selbstverwaltung im kommunalen Bereich durch die Städteordnung von 1808 sowie die Schaffung eines vorbildlichen und innovativen Bildungssystems mit der dreistufigen Schulgliederung sowie einer beachtlichen Universitätslandschaft mit der Neugründung der Berliner Universität an der Spitze erweisen sich als erfolgreiche gesellschaftliche Neuformierungen. Sie gehen in Ansatz und Effektivität teilweise weit über das hinaus, was in anderen Teilen Deutschlands in dieser Zeit geschieht.
Dagegen steht die mit dem Oktoberedikt von 1807 sowie weiteren Folgegesetzen eingeleitete Reform der landwirtschaftlichen Verhältnisse in Preußen im Wesentlichen nur auf dem Papier, da von ihr vor allem die Großgrundbesitzer profitieren. Die 1810/12 eingeführte Einkommensteuer wich 1820 einer Klassensteuer, die ebenfalls wieder den Güteradel privilegiert, wie überhaupt der Adel auch weiterhin die Besetzung der Offiziersstellen innerhalb der preußischen Armee dominiert, so dass sich auch hier die Reformen in einem engen Rahmen halten. Unvollständig ist schließlich auch die Befreiung der jüdischen Bevölkerung Preußens von ihren rechtlich-gesellschaftlichen Pressionen, die noch aus der mittelalterlich-feudalen Vorzeit stammen. Hier beziehen sich die Reformen nicht auf das gesamte spätere Gebiet Preußens und jüdische Staatsbürger erhalten auch weiterhin keinen Zugang zu zivilen Staatsämtern sowie zur Offizierslaufbahn. Allerdings unterscheidet sich Preußen auf diesem Gebiet insgesamt von anderen deutschen Staaten kaum.
Trotz des insgesamt also eingeschränkten Charakters der Reformen in Preußen sowie der teilweisen Rücknahme oder zumindest der nicht durchgeführten Ausgestaltung nach 1815 entwickeln sie doch eine Langzeitwirkung. In wirtschaftlicher Hinsicht ermöglichen die Reformen beispielsweise erst die vergrößerte Mobilität großer Menschenmassen vom Land und damit die rasche Industrialisierung und Urbanisierung Preußens im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts.
Politisch gravierend ist allerdings, dass der preußische König sein während des Befreiungskrieges gegebenes Versprechen der Gewährung einer Verfassung für Preußen nach dem Sieg der alten Mächte 1815 nicht einhält. Zwar nimmt der 1817 eingerichtete Staatsrat als ein mit liberal und reformorientierten Beamten durchsetztes Expertengremium zunächst eine Art Ersatzfunktion für das nicht gewährte Parlament ein, doch geschieht dies eben gerade als obrigkeitsstaatliche Maßnahme und ohne die Möglichkeit einer öffentlichen Kontrolle der Staatsgeschäfte. An diesem Punkt der Entwicklung einer demokratischen Zivilgesellschaft unterscheidet sich das preußische Modell denn auch gravierend von der Lage im liberaleren Süddeutschland, mit den entsprechenden Langzeitfolgen für die politische Kultur in Deutschland insgesamt.
Diese konservativ-reaktionäre Wendung nach 1815 ist kennzeichnend für die neue Rolle, die Preußen von nun an in Mitteleuropa spielen sollte. Kennzeichnend für diese Epoche preußischer Geschichte ist die Durchsetzung einer repressiven Reaktionspolitik, innerhalb der Preußen als Gendarm gegen alle liberal-demokratischen Bewegungen in Deutschland eine ganz besondere Scharfmacherfunktion einnahm.
Zum einen bildet die Hohenzollernmonarchie einen Obrigkeitsstaat aus, in dem sich der „beschränkte Untertanenverstand“ am besten gar nicht betätigen sollte, wie es in einem Bescheid des preußischen Innenministers Gustav Adolf von Rochow für die Bürger von Elbing heißt, die gegen die Maßnahmen gegen die Göttinger Sieben protestiert hatten. Preußen war innerhalb des Deutschen Bundes im Gefolge der Karlsbader Beschlüsse von 1819 besonders hartnäckig an den Maßnahmen staatlichen Justizterrors gegen jede liberal-demokratische und nationale Bewegung, der sogenannten Demagogenverfolgung, beteiligt, die preußischen Gefängnisse sind in dieser Zeit prall mit politischen Gefangenen gefüllt. Der beginnenden Proletarisierung und dem im Zeichen der Industrialisierung entstehenden Massenelend breiter Bevölkerungskreise begegnet der preußische Staat 1844 mit der militärischen Niederschlagung der Proteste der verelendeten Weber des schlesischen Eulengebirges.
Doch in dieser dunklen, reaktionären Zeit, in der sich Preußen nicht allzuviele Sympathisanten in Deutschland und der Welt schafft, gibt es auch ein „anderes“ Preußen. Die Zeit zwischen den Befreiungskriegen und der Revolution von 1848 stellt nämlich eine Periode der absoluten Hochblüte preußischen Kulturlebens dar, in der insbesondere die Hauptstadt Berlin als „Spree-Athen“ die alte deutsche Kulturhochburg Weimar abzulösen beginnt. In der Literatur ist es die Berliner Romantische Schule mit Autoren wie Achim Arnim und Clemens von Brentano, Heinrich Kleist, später auch E.T.A. Hoffmann und Heinrich Heine sowie eine prickelnde Salonkultur, die für Aufsehen sorgt. In den bildenden Künsten, v.a. der Architektur und der Gartenbaukunst, sind es die genialen klassizistischen Bauensembles des preußischen Staatsbaumeister Karl Friedrich Schinkel sowie die Arbeiten von Gottfried Schadow, Christian Daniel Rauch, Ludwig Tieck, Ludwig Persius und Friedrich August Stüler sowie Peter Josef Lenné, die internationale Beachtung finden. Schließlich erlebt Preußen vor allem in der 1810 gegründeten Berliner Universität eine neue geisteswissenschaftliche Blüte, für die in erster Linie die Philosophen des deutschen Idealismus Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und Georg Wilhelm Friedrich Hegel oder auch die Philologie der Gebrüder Wilhelm und Jakob Grimm stehen, um nur die wichtigsten zu nennen.
Aber auch für die Entwicklung der liberal-demokratischen sowie der sozialistischen Arbeiterbewegung stellt Preußen, wenn auch ohne obrigkeitsstaatliche Duldung, das wichtigste deutsche Betätigungsfeld dar. Kämpferische Demokraten wie etwa der Königsberger Arzt Johann Jacoby fordern vehement die Verwirklichung einer konstitutionellen Verfassung, der Berliner Schriftsetzer Stephan Born verwirklicht mit seinen Arbeiterverbrüderungen die Anfänge der Interessenvertretung der neu entstehenden Industrieproletariats. Und schließlich vollzieht sich die Etablierung des wissenschaftlichen Sozialismus mit seiner späteren welthistorischen Bedeutung nach den Anfängen des aus der preußischen Provinz Magdeburg stammenden Schneidergesellen Wilhelm Weitling in der preußischen Provinz Rheinland um die Redakteure der „ Neuen Rheinischen Zeitung“, deren wichtigste Vertreter die preußischen Staatsbürger Karl Marx (geboren in Trier), Friedrich Engels (Barmen) sowie Wilhelm Wolff (Schlesien) gehören. Sie alle bilden den anderen Teil des Phänomens Preußen, das auch vorhanden war, aber heute häufig nicht mehr im Bewusstsein der Nachwelt präsent ist.
Preußen und insbesondere seine Hauptstadt Berlin stellen nicht ganz zufällig eines der Zentren der deutschen Revolution von 1848. Ebenso wie Österreich als die andere konservative Macht in Europa in Wien läßt auch der preußische König die Revolution von 1848 in Berlin durch Militär zerschlagen. König Friedrich Wilhelm IV. lehnt schließlich auch die von der Frankfurter Nationalversammlung im April 1849 dem preußischen König als der anerkanntermaßen neuen Führungsmacht in Deutschland angebotene Kaiserkrone für ein neues, geeintes Kleindeutschland ab. Er verhindert auf diese Weise die vorzeitige deutsche Einigung unter preußischer Führung, allerdings nicht aus grundsätzlichen Erwägungen, sondern wegen ihrer revolutionären Entstehungsgeschichte als Bewegung des Volkes und der liberal-demokratischen Kräfte.
Die schließlich unter dem preußischen Ministerpräsidenten Bismarck seit 1862 mit drei Kriegen von oben herbeigeführte kleindeutsche oder preußisch dominierte deutsche Einigung von 1871 sollte eine solche Verbindung von deutscher Einigung und revolutionärer gesellschaftlicher Veränderungen mit allen Folgen für die sozialpolitische Verfasstheit des neuen Deutschland verhindern. Sie stellt somit das genau entgegengesetzte Konzept zu der von der liberal-demokratischen Nationalbewegung nach den Befreiungskriegen angestrebten deutschen Einigung dar. Auch in Preußen versagt 1848 und danach das von Revolutionsangst gepeinigte liberale Bürgertum. Schließlich wurden in Preußen-Deutschland alle wesentlichen sozialpolitischen und nationalen Veränderungen nicht durch das Volk von unten, sondern durch staatlich verordnete, durchgesetzte und dosierte Reformen von oben verwirklicht. Diese preußisch-obrigkeitsstaatliche Prägung für die politische Kultur in Deutschland überhaupt und die konkrete Ausgestaltung der Verfassungs- und Sozialstrukturen des zweiten Deutschen Reiches sollte weitreichende Langzeitwirkungen entfalten.
Dieses neue deutsche Kaiserreich von 1871 ist, da es wirtschaftlich-steuerlich sowie verwaltungsmäßig überhaupt erst einmal über einige Jahrzehnte hinweg aufgebaut werden muß, in vielerlei Hinsicht von Preußen, seiner Politik- und Verwaltungselite, seinen Institutionen sowie dank der Dominanz Preußens auch von seiner traditionellen politischen Kultur geprägt. Dabei dominieren die negativ-antidemokratischen Seiten Preußens im Kaiserreich eindeutig. Die innere, soziale Zerrissenheit des Deutschen Kaiserreiches von 1871 ist sicherlich nicht Preußen alleine anzulasten, wohl aber die insgesamt untauglichen Versuche der gesellschaftlichen Integration der föderalen Verschiedenheit des neuen Reiches. Bismarck erklärt alle diejenigen Kräfte des neuen Staates, die die preußische Variante der deutschen Einigung nicht unumschränkt bejubeln, zu inneren Reichsfeinden und läßt sie verfolgen. Dazu gehört zunächst im Rahmen des Kulturkampfes die katholische Minderheit im Reich, deren Integration beim Zugewinn der rheinischen Gebietsteile zu Preußen schon nach 1815 nicht besonders geschickt eingefädelt worden war (Kölner Kirchenstreit 1837/38).
Gänzlich katastrophal gestaltet sich die Minoritätenpolitik Preußens, insbesondere die seiner polnischen Minderheit gegenüber. Die weit verbreitete Einstellung in der preußischen Elite gegenüber Polen überhaupt sowie insbesondere den Bestrebungen Polens nach einer eigenen nationalen Souveränität läßt sich anhand einer Charakterisierung Bismarcks aus einem Brief von 1861 ablesen, wonach man die Polen „ausrotten“ müsse, „wenn wir bestehen wollen“. Während die polnische Bevölkerung, die durch die polnischen Teilungen im 18. Jahrhundert zu Preußen gekommenen war, ihre Identität behalten konnte, griff Preußen jetzt im Deutschen Kaiserreich, insbesondere ab Mitte der 1880er Jahre, zu einer brutalen Germanisierungspolitik. Die Problematik der polnischen Minderheit im Preußischen Staat kann mit diesen brachialen Methoden aber nicht gelöst werden. Aber auch die mißlungene Integration der Arbeiterschaft im neuen Staat, der gepflegte hemmungslose Militarismus, der bald überbordende byzantinische Wilhelminismus sowie insbesondere das fehlende Korrektiv eines funktionierenden, kontrollierenden parlamentarischen Systems sind in erster Linie preußische Prägungen des neuen deutschen Kaiserreich.
Aber auch im obrigkeitsstaatlichen Kaiserreich weist der fortexistierende Preußische Staat Tendenzen auf, in denen er den vermeintlich liberaleren süddeutschen Staaten überlegen ist. So entwickelt sich in Preußen im Kaiserreich eine vorbildliche Verwaltungsgerichtsbarkeit, die hier wesentlich demokratischer und bürgerfreundlicher ausgestaltet ist als in Süddeutschland, wo man sich über diese fortschrittlichen preußischen Tendenzen durchaus wundert. Auch im Bereich der Kultur- und Wissenschaftsförderung erreicht Preußen im Kaiserreich wiederum eine Vorbildlichkeit, die durchaus nicht nur seiner Größe geschuldet ist. Einer effizient arbeitenden Kultusbürokratie etwa des Ministerialdirektors für das Universitätswesen Friedrich Althoff ist es zu verdanken, dass Preußen beispielsweise mit der Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft als teilweise privat mäzenierter Großforschungsgesellschaft höchste internationale Beachtung findet.
Das auch in der Weimarer Republik weiter bestehende Preußen erreicht zum ersten Mal seit der Reformzeit zu Beginn des 19. Jahrhunderts auch auf politischem Gebiet wieder eine Vorbildfunktion. Die unter der Leitung des aus Königsberg stammenden sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Otto Braun stehende preußische Regierung entwickelt sich innerhalb der Turbulenzen der Weimarer Demokratie zu einem Musterstaat an Stabilität und Demokratie. Braun verwirklicht nicht nur eine viel beachtete Demokratisierung Preußens insbesondere auf den Gebieten einer fortschrittliche Sozialpolitik, einer modernen Wohnungsbaupolitik oder der Förderung von Kleinsiedlern. Er versucht auch, ein politisch wirksames Bündnis gegen den Machtaufstieg der nationalsozialistischen Bewegung zu schmieden. Es kann daher nicht verwundern, dass gerade dieser Freistaat Preußen von den reaktionären Kräften in der Spätphase der Weimarer Republik als Vorbereitung auf die NS-Machtergreifung in verfassungsrechtlich höchst bedenklicher Art und Weise beseitigt wird.
Das neue nationalsozialistische Regime beruft sich zwar herrschaftslegitimierend auf bestimmte preußische Traditionen und feiert im „Tag von Potsdam“ insbesondere dessen militärische Größe. Der unter dem Ministerpräsidenten Hermann Göring formal fortbestehende preußische Staat ist verfassungsreal aber schon längst ausgehöhlt und nur noch als Hülle vorhanden. Aber auch hier zeigt sich erneut, dass positive Seiten des Phänomens Preußen weiterhin geschichtswirksam vorhanden sind. Denn neben aller Anpassung und Hingabe an das neue Regime besteht ein nicht unerheblicher Teil des Widerstands der militärisch-traditionellen Eliten gegen die NS-Diktatur aus Truppenteilen, die, wie etwas das Potsdamer Infanterie-Regiment I. R. 9, ganz bewusst in preußischen Pflichttraditionen stehen und aus diesen heraus auch am 20. Juli 1944 den Aufstand gegen das Verbrechensregime um Hitler wagen.
Als Gesamtfazit der Verortung Preußens im Spannungsfeld zwischen Repression und Fortschrittlichkeit im 19. und 20. Jahrhundert überwiegen insgesamt zumindest bis 1918 die obrigkeitsstaatlichen Tendenzen der Hohenzollernmonarchie, die sich in der Überbetonung der Bedeutung des Staates oder, wie Thomas Mann es ausgedrückt hat, dem „General Dr. von Staat“, kennzeichnen lässt. Auf die Länge gesehen scheitert der preußische Weg der Anpassung der politischen Ordnung der Zivilgesellschaft und der staatlichen Strukturen an die moderne, dynamische Industriegesellschaft. Preußens Staatselite und politische Klasse findet insgesamt keine konstruktive Antwort auf die epochalen Herausforderung der doppelten Revolution am Ende des 18. Jahrhunderts und ihren Folgewirkungen für die Moderne. Es verharrt in den wesentlichen Teilen in den Lebensformen und Anschauungen der feudal-aristokratischen Vorzeit und findet keinen Weg zu einer angemessenen politischen Mitbestimmung des Volkes, einer Aktivierung und Integration der Staatsbürger und einer Reform hin zu einer größeren Demokratisierung und Parlamentarisierung des politischen Lebens. Die überwiegend agrarisch geprägte Wirtschaftsstruktur des Landes wirkt sich über die entsprechend bestimmenden landwirtschaftlichen Eliten auf Gesellschaft und politische Kultur Preußens aus. Dabei stehen sich organisatorisch-verwaltungstechnische und fortschrittliche Modernität und politisch-reaktionäre, militaristische Antimodernität allzu oft diametral entgegen. Insgesamt bleibt die Frage zu stellen, ob diese negativen Seiten Preußens, wenn sie im Kaiserreich und danach fortwirkten, nicht eben doch ihre langwirkenden Folgen für die politische Kultur in Deutschland ausprägten, bis hin zum Dritten Reich.
Dies ist allerdings das Urteil des Vergleichs des „verspäteten Staates“ Preußens mit den entwickelteren Zivilgesellschaften des Westens, also Englands und Frankreichs. Mit der Perspektive des Ostens liegen die Dinge schon wieder ganz anders, denn für die aus den pogrombedrohten Russischen Reich fliehenden Ostjuden stellte Preußen-Deutschland durchaus ein willkommenes Zufluchtgebiet dar, in das diese verfolgte Minderheit im 19. Jahrhundert in großen Zahlen emigrierte. Darüber hinaus besticht die große Wandlungsfähigkeit des „preußischen Kunststaates“, der sich in seiner politisch-sozialen Kultur zwischen dem klassischen Preußen des 18. Jahrhundert, dem romantisch-reaktionären der Vormärzzeit, der deutschnationalen Phase des Kaiserreiches und der demokratisch-republikanischen der Weimarer Zeit deutlich unterscheidet. So ziehen sich diese beiden Seiten als negative wie positive Zuspitzung des Mythos Preußens durch die neuere Geschichte und beide Seiten sind vorhanden und wahrzunehmen, wenn eine plumpe Mythologisierung Preußens vermieden werden soll.