Militärstaat Preußen - Das preußische Militär: Ein Staat im Staate?
Beim Tode Friedrichs II. soll der französische Staatsmann Graf Mirabeau geäußert haben: “Andere Staaten besitzen eine Armee; Preußen ist eine Armee, die einen Staat besitzt.“ Die Grundlage für diese Militarisierung des Landes schuf der Kurfürst Friedrich Wilhelm (1640-1688) nach den Verwüstungen durch den Dreißigjährigen Krieg (1618-1648).
Seine auf Wachstum des Heeres angelegte Politik führte zur massiven Rekrutenerhebung im eigenen Land. Diese konnte nur durch repressiven Zwang und gewaltsame Werbung gegenüber der wehrfähigen ländlichen und städtischen Bevölkerung durchgesetzt werden. Auch Unterhalt und Versorgung der Armee bedingten weitere Eingriffe und militärische Reglementierungen in die bestehenden Verhältnisse. Die Beziehungen zwischen Monarchie, Militär und Gesellschaft waren gestört.
Der Enkel des “Großen Kurfürsten“, Friedrich Wilhelm I.(1713-1740) ist als Soldatenkönig in die Geschichte eingegangen. Er drückte Staat und Gesellschaft einen soldatischen Stempel auf: Er ordnete das Staatswesen neu, indem er alle Institutionen, Stände und Interessen unter die Belange der Armee stellte. Staat und Heer bekamen eine einheitliche Verfassung. Das Militär wurde zum führenden Instrument der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung im Innern des Landes. In der Rangfolge des Hofes standen die höchsten Offiziere an der Spitze. Seit 1725 trug Friedrich Wilhelm I. selbst nur noch Uniform. Mit dem Kantonreglement von 1733 setzte er ein neues Rekrutierungssystem durch, das die zeitweilige Rückkehr der Truppenteile auf die heimatliche Scholle zuließ (Soldatenbauer). Für das Heer wurde das hierarchische Prinzip des Gehorsams von “oben nach unten“ durchgesetzt. So wie sich Adlige und Bauern als Gutsherren und bäuerliche Untertanen gegenüberstanden, so begegneten sie sich in der Armee nun als Offiziere und Soldaten. Die Rekrutierung der Mannschaften war daher immer mit Schwierigkeiten verbunden und durch weitere Anwerbungen nichtpreußischer Deutscher für den Armeedienst begleitet.
Doch trotz der Umwandlung Preußens in einen Militärstaat führte der " Soldatenkönig" nur einen einzigen Krieg (zu Beginn seiner Regierungszeit, 1720). Auch sein Sohn und Nachfolger, Friedrich II., ließ als Kronprinz wenig kriegerische Neigungen erkennen:
Der Krieg ist ein solcher Abgrund des Jammers, sein Ausgang so wenig sicher und seine Folgen für ein Land so verheerend, daß es sich die Landesherren gar nicht genug überlegen können, ehe sie ihn auf sich nehmen. Ich bin überzeugt, sähen die Könige einmal ein schonungsloses Bild von all dem Elend des Volkes, es griffe ihnen ans Herz.
Doch schon wenige Monate nach seinem Regierungsantritt begann Friedrich die verlustreichste Serie von Kriegen, die Europa nach dem Dreißigjährigen Krieg erdulden mußte. Die Truppenstärke erweiterte er bis zum Ende seiner Regierung auf 200.000 Mann.
Dem Adel wurden seine politischen Rechte aus der mittelalterlichen Ordnung mehr und mehr genommen. Dafür erhielt er jedoch eine größere wirtschaftliche Unabhängigkeit und eine neue Funktion im Offizierskorps der Armee. Als nach der Infanterie (ca. 1680) auch die Kavallerie (1717/21) in die Städte verlegt wurde, dienten diese nun in erster Linie als Garnisonen. Das bedeutete für die städtische Selbstverwaltung eine allmähliche Beseitigung ihrer alten Bürger-Rechte, da sich die Bedürfnisse des absolutistischen Staates kraft des Herrschaftsamtes des Heeres zunehmend durchsetzten. Bereits im 18. Jahrhundert diente in Berlin ein Viertel der Bevölkerung in der Armee, in vielen Städten Brandenburg-Preußens lag der Anteil sogar noch höher. Für die Quartiere der Soldaten hatte vor allem die Zivilbevölkerung zu sorgen. Ausstattung und Versorgung der Armee förderten allerdings Handel, Handwerk und Gewerbe. Unter Friedrich Wilhelm I. nahm das Heer mit 80.000 Soldaten unter den europäischen Staaten den vierten Platz ein, obwohl Preußen nach Bevölkerungszahl bzw. Fläche erst an dreizehnter bzw. zehnter Stelle lag. Insgesamt wurden für das Heer 85 Prozent des Staatshaushaltes ausgegeben.
Die von Friedrich II. forcierte intensive Erweiterung von Verwaltung und Wirtschaft diente ausschließlich dem Ausbau Preußens zur Militärmacht. Aus dem Armeedienst ausgeschiedene Offiziere erhielten eine sichere Stellung als Beamte, so dass sich ein zum Gehorsam verpflichtetes Beamtentum herausbildete. Damit fand der Staatsgedanke der Militarisierung des öffentlichen Lebens in Preußen seinen besonderen Ausdruck. Unterordnung und Pflichterfüllung durchdrangen alle Bereiche der Gesellschaft. Die moralische Rechtfertigung von Krieg und Frieden lebte Friedrich II. durch Entsagung, Dienstbereitschaft und Opfermut vor. Aber erst einhundert Jahre später sollte dieses disziplinierte Verhalten Motivation für das Volk werden.
Die Militarisierung des Staates nach innen korrespondierte mit einem Machtzuwachs nach außen. Mitte des 18. Jahrhunderts waren Preußen und Österreich gleichermaßen erstarkt, so dass sie um die Vormachtstellung unter den deutschen Einzelstaaten kämpften. Nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges (1756-1763), dessen Ausgang trotz Friedrichs Fähigkeiten als Feldherr zeitweise ungewiss war, hatte sich das Kräfteverhältnis zwischen den beiden Staaten zwar nicht wesentlich verändert, doch hatte sich Preußen als erstrangige Militärmacht erwiesen und war neben Österreich zur zweiten deutschen Großmacht aufgestiegen.
Die Wirkungen der radikalen Beseitigung feudaler Strukturen in der Französischen Revolution von 1789 und die Niederlage gegen das napoleonische Frankreich bei Jena und Auerstedt 1806 und gegen Frankreich und Russland bei Friedland 1807 erzwangen ab Oktober 1807 eine Heeresreform in Preußen. Zu den Reformern gehörten Johann David von Scharnhorst, August Neithardt von Gneisenau, Karl von Clausewitz, Hermann von Boyen und Karl Wilhelm von Grolmann. Das Offizierskorps wurde vollständig erneuert. Von den 143 Generälen von 1806 waren 1813 nur noch zwei im Dienst. Das Adelsprivileg zur Besetzung von Offiziersstellen wurde abgeschafft und die Beförderung nach militärischen Leistungsprinzipien eingeführt. Trotzdem blieb die Vorherrschaft des Adels im Offizierskorps bestehen. 1810 kam es zur Gründung einer Allgemeinen Kriegsschule (später Kriegsakademie) in Berlin. Zwar ließ sich noch nicht eine allgemeine Wehrpflicht aufgrund der von Napoleon auferlegten Heeresbeschränkung von 42.000 Soldaten durchsetzen, doch entstand neben einer 120.000 Mann starken Landwehr (Miliztruppe) eine Berufsarmee, die sich dank einer kurzen Wehrdienstdauer permanent erneuerte (Krümpersystem) und daher im Ernstfall eine hohe Zahl ausgebildeter Reservisten heranziehen konnte. Gleichzeitig musste der Adel fortan denselben Ausbildungsweg durchlaufen wie die Bürger. Der Armeedienst für den Soldaten wurde humanisiert, die Freiheit des Rückens (Gneisenau), die Abschaffung der Prügelstrafe, gewährleistet. Der Soldatenberuf sollte nun als ehrenvolle Beschäftigung für jeden freien Staatsbürger gelten. Die Herstellung der inneren Freiwilligkeit für die Mitwirkung des Volkes an der Politik des Militärstaates Preußen hatte ihren Anfang genommen.
Eisernes Kreuz als Kriegsauszeichnung, sowie der Aufruf An mein Volk des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III. (1797-1840) stärkten 1813 die Begeisterung in der Bevölkerung, am nationalen Befreiungskampf gegen Frankreich teilzunehmen. Ende 1813 standen etwa 300.000 preußische Soldaten, ungefähr sechs Prozent der Gesamtbevölkerung, bereit, für die Freiheit ihres Landes zu kämpfen. Für die Dauer des Krieges wurde die allgemeine Wehrpflicht eingeführt, ab 1814 galt sie generell. Das Heer wurde in ein “ Stehendes Heer“ mit dreijähriger Dienstzeit umgewandelt, bestehend aus Landwehr und Landsturm. Doch mit dem Sieg über Napoleon zerbrach das einende Moment des Befreiungskrieges. Selbstbewusstes Bürgertum einerseits und Monarchie andererseits waren noch unvereinbar.
Auch die mit der Industriellen Revolution einhergehenden sozialen Probleme hätten innerhalb des Staates einer politischen Lösung bedurft. Die Massenverelendung war unübersehbar. Doch auch die Regierung Friedrich Wilhelms IV. (1840-1861) zog eine militärische Lösung vor, so die Niederschlagung des Aufstandes der schlesischen Weber 1844 durch das preußische Militär. Die Konfrontation zwischen Militär und Volk am 18. März 1848 in Berlin war auch der Anlass der Revolution von 1848. Infolge der revolutionären Ereignisse wurden weitere politische Demonstrationen und bewaffnete Erhebungen der Industrie- und Landarbeiter niedergeschlagen. Das Bürgertum zeigte wachsende Kompromissbereitschaft gegenüber Monarchie und Adel. Die Revolution war gescheitert. Das preußische Militär hatte sich als ein wesentliches Element der inneren Stabilität erwiesen. Mit Hilfe der Armee konnte notfalls jede demokratische Bewegung rigoros unterdrückt werden.
1862 kam es wegen einer erneut notwendigen Heeresreform zwischen Regierung und Parlament zum Verfassungskonflikt. Mit der Ernennung Otto von Bismarcks am 23. September 1862 zum preußischen Ministerpräsidenten und Außenminister wurde der Konflikt um die Erweiterung des Militärhaushaltes gegenüber dem auf sein Budgetrecht forderndes Abgeordnetenhaus im Sinn der Regierung gelöst. Bismarck begründete den weiteren Ausbau des Heeres ohne Zustimmung des Parlaments mit der Zielstellung der Einheit Deutschlands (Blut-und-Eisen-Rede) und verwies auf eine angebliche “Lücke“ in der Verfassung (Idemnitätstheorie): Hinsichtlich des Haushalts gäbe es zwischen Krone und Parlament keine Übereinstimmung, so dass hier ein Vakuum in der Verfassung entstanden sei. Damit falle allein der Krone die Entscheidung zu. Diese Politik brachte Preußen die Vorherrschaft in Deutschland, und Bismarcks außenpolitischen Erfolge in den Kriegen gegen Dänemark (1864) und Österreich (1866) brachen den innerdeutschen Widerstand. Die Kriegskredite billigte das neu gewählte Parlament nachträglich. Die Armee stand damit weitgehend außerhalb einer parlamentarischer Kontrolle: Sie fungierte als persönliches Instrument des Monarchen und wurde zum “Staat im Staate“.
Bismarcks außenpolitischer Kurs zur Verteidigung der Interessen des Vaterlandes im Deutsch-Französischen Krieg führte 1871 in Paris zur Gründung des Deutschen Reiches unter Führung Preußens. Nach der Reichsverfassung vom 16. April 1871 erhielt der König von Preußen den Vorsitz im Deutschen Reich. Er trug den Titel Deutscher Kaiser und war im Krieg der Bundesfeldherr über das gesamte Heer. Das Militär hatte damit eine wesentliche Funktion auf dem Weg zur nationalen Einheit übernommen. Seine innenpolitische Aufwertung bildete sowohl die Grundlage für die zukünftige Außenpolitik als auch Grundbedingung für die Aufrechterhaltung des Status quo.
Der Gründung des Deutschen Reiches 1871 folgte in der Regierungszeit Wilhelm II. (1888-1918) eine verstärkte Legendenbildung über die ruhmreiche Vergangenheit. Man stellte die preussischen Könige als die Leitfiguren für die Herstellung der inneren Einheit des deutschen Volkes und ihre militärische Verdienste als Leitbild der Gesellschaft dar. Das Ansehen des Militärs wurde geradezu pervertiert: Nur der, wer eine Uniform trug, galt als Mensch! Die heute von vielen an den Tag gelegte Abneigung gegen Soldaten und Uniformen hat zum Teil auch darin ihre Ursachen. Die besondere Stellung der Armee in Preußen und im Deutschen Reich wurde jedoch von dem großen Teil des Volkes, besonders der bürgerlichen Bevölkerung, akzeptiert. Die innere Militarisierung der Gesellschaft erlangte ihre allmähliche Vollendung durch die Akzeptanz in der Bevölkerung, dass die Verteidigung des deutschen Vaterlandes die höchste Ehre sei.
Am Ende des 19. Jahrhunderts war Deutschland durch seine ökonomische Entwicklung zu einer wirtschaftlichen Großmacht geworden. Damit verbunden war die Suche nach neuen Rohstoffquellen und Absatzmärkten. 1884 begann Bismarck Kolonien zu erwerben. Hinsichtlich der Ausdehnung des Kolonialbesitzes in Afrika, der Südsee und in Asien gelangte Deutschland hinter England, Frankreich und Holland – mit großem Abstand - an die vierte Stelle. Zwischen 1888 und 1914 gab es mehrfach Einsätze der Kriegsmarine in überseeische Konflikte. Durch ein kompliziertes Bündnissystem hatte Bismarck dagegen auf dem europäischen Kontinent einen Ausgleich im Kräfteverhältnis gesucht, um Zeit zu gewinnen. Der Kampf um die Neuaufteilung der Welt zwischen den Großmächten stand bevor. Ohne militärische Auseinandersetzung war die Durchsetzung der deutschen Interessen um weitere wirtschaftliche Einflusssphären nicht denkbar. Die deutsche Armee wurde dazu ständig modernisiert und zum schlagkräftigen Heer vergrößert. Mehrmalig wurde vom Reichstag die Erhöhung der Friedensstärke des Heeres (1912: 544.211; 1913: 661.176) bzw. die Beschleunigung des Flottenausbaus (1900, 1908, 1912) gebilligt. 1914 standen 786.000 unter Waffen.
Was Bismarck mit seiner Außenpolitik begonnen hatte, mündete um die Jahrhundertwende in eine gezielte Machtpolitik gegenüber den europäischen Mächten. Bei der militärischen Rüstung konnte sich das deutsche Kaiserreich auf die einigende Kraft der preußischen Traditionen berufen. Die innere Militarisierung des Kaiserreiches war über Jahrhunderte in der deutschen und vor allem preußischen Geschichte gewachsen. Der Kampf um die Verteidigung der Interessen des deutschen Vaterlandes war zur höchsten Ehre geworden. Mit Begeisterung feierte ein großer Teil der Deutschen 1914 den Beginn des Ersten Weltkrieges. Auch nach der vernichtenden Niederlage 1918 blieb am Ende des Krieges vielfach der Grundgedanke der militärischen Ehrenhaftigkeit eines nationalen Kampfes in der Bevölkerung lebendig.
Trotz Versailler Vertrag, Novemberrevolution und Weimarer Republik kam es am 24. Februar 1919 bereits zur Bildung einer vorläufigen Reichswehr aus einer Zusammenfassung bestehender Freiwilligenverbände und Freiwilligen. Freikorps, Traditionsverbände und Burschenschaften vermittelten diese Tradition auch in der Weimarer Zeit. Nachdem Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt worden war, demonstrierte er vor aller Welt, das Erbe Preußens angetreten zu haben. Als der Reichspräsident Paul von Hindenburg 1934 starb, ließ sich Hitler von Offizieren und Soldaten unbedingten Gehorsam geloben. Selbstbewusst beriefen sich die Nationalsozialisten auf Preußen und auf Friedrich den Großen als Bewahrer preußischer Tugenden und Traditionen. Hitler beseitigte alle Merkmale eines demokratischen Verfassungsstaates und errichtete eine totalitäre Diktatur. Auch die deutsche Wehrmacht ließ sich für seine Ziele einspannen. Die preußische Geschichte wurde genutzt und missbraucht, um die politischen Ziele des deutschen Faschismus zu rechtfertigen. Das Ende des Zweiten Weltkrieges führte auch zum formellen Ende Preußens, seine hemmenden und fördernden Traditionen jedoch lebten und leben weiter.