Wirtschaft in Preußen - Fortschritt in Grenzen
Preußen gilt heute entweder als rücksichtsloser Machtstaat mit einer beispiellosen Karriere unter den deutschen und europäischen Staaten des 18. und 19. Jahrhunderts oder nicht selten verklärend, als Hort der Rechtsstaatlichkeit und besonders ausgeprägter Sekundärtugenden. Dass der preußische Staat aber auch in seiner wirtschaftlichen Entwicklung phasenweise von ganz herausragenden innovativen Zügen geprägt war und sowohl seinen Aufstieg im 17./18. Jahrhundert als auch seine hegemoniale Stellung im 19. Jahrhundert in Deutschland dem ganz besonderen wirtschaftlichen Erfolg zu verdanken hat, ist weniger bekannt. Freilich prägen sich die ganz besonderen Eigentümlichkeiten preußischer Staatlichkeit und politischer Kultur auch in seinen wirtschaftlichen Verhältnissen aus. Die lange Dominanz des agrarischen Sektors bis hin zu den Debatten um die Schutzzollproblematik im späten 19. Jahrhundert machen dies augenfällig.
Schon in der frühen Zeit des Brandenburgisch-Preußischen Staates im 17. und 18. Jahrhundert nimmt das damals sicher zurecht unter wirtschaftlichen Verhältnissen ver-ächtlich als „ Streusandbüchse des Heiligen Römischen Reiches“ verschriene Land am äußersten nordöstlichen Rand des Reiches einen rasanten ökonomischen und landeskulturellen Aufstieg, zumindest, wenn seine Ausgangsposition in Betracht gezogen wird.
Der Hohenzollern-Staat ist nämlich in der Mitte des 17. Jahrhunderts, vor allem verglichen mit den reichen Landesherrschaften des Reiches wie Sachsen oder auch dem habsburgischen Österreich, ein bitterarmes Land. Vornehmlich durch die katastrophalen Folgen des Dreißigjährigen Krieges sind weite Landstriche menschenleer, die Wirtschaft liegt am Boden. Bereits dem Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm gelingt es aber, mit einem an den merkantilistischen Grundsätzen des Zeitalters ausgerichteten Aktionsprogramm die Wirtschaft Brandenburg-Preußens wieder aufzurichten. Durch ein neues Steuersystem ( Akzise als Verbrauchssteuer) sowie Maßnahmen im Bereich der Infrastruktur durch die Verbesserung der Verkehrsverbindungen, in erster Linie dem Bau von Kanälen, sowie durch umfangreiche Peuplierungsmaßnahmen, d.h. die Anlockung und Ansiedlung von Menschen (und zwar in erster Linie Fachleuten) aus vielen Ländern Europas, gelingt es Friedrich Wilhelm, die Anfänge für eine allmähliche wirtschaftliche Gesundung des Landes zu legen.
Der Große Kurfürst lässt 1671 reiche Juden, die aus Wien vertrieben werden, sowie die in Frankreich am Ende des 17. Jahrhundert verfolgten Hugenotten, in sein Land kommen.
Diese Aufnahme von Verfolgten und Exilanten aus vielen Ländern Europas und dem Deutschen Reich soll eines der durchgehenden Markenzeichen hohenzollernscher Bevölkerungspolitik im 17. und 18. Jahrhundert werden. Religiös-weltanschauliche Toleranz wird somit zum notwendigen Staatsprogramm Preußens. Unter Friedrich Wilhelm I., dem Soldatenkönig, werden es verfolgte Salzburger und böhmische Emigranten sein, Friedrich II. läßt in seiner Regierungszeit Kolonisten u.a. aus der Pfalz, der Schweiz und aus Württemberg in den neu kultivierten Landstrichen ansiedeln.
Diese Menschen bringen durch ihre Anwesenheit nicht nur Arbeitskraft und wirtschaftliche Konsumtion nach Preußen, sondern auch neue wirtschaftliche Methoden und Fertigkeiten, die ganz erheblich zum rasanten ökonomischen Aufstieg des Landes beitragen. Sie bilden aber gleichzeitig, und dies ist für Preußen nicht weniger wichtig, Nachschub für den schier unersättlichen Bedarf der königlichen Armee an Soldaten.
Wesentliches Kennzeichen der preußischen Wirtschaftspolitik der Frühen Neuzeit ist es, dass Innovationen und wirtschaftliche Wachstumsstrategien in erster Linie durch die Landesherren bzw. seine Verwaltung in Gang gesetzt werden müssen und weniger von den wirtschaftlich tätigen Bürgern der Monarchie. Diese staatswirtschaftliche Ankurbelung ist in Preußen aber gleichzeitig die einzige Möglichkeit, das darbende Land voran zu bringen. Denn anders als in den zu dieser Zeit führenden Wirtschaftsmächten England, Frankreich und vor allem den Niederlanden fehlt in Brandenburg-Preußen in ausreichendem Maße ein wirtschaftlich tätiges Bürgertum, das Träger des ökonomischen Fortschrittes hätte sein können. Ein wesentliches Moment, das gerade die hohenzollernschen Landesherrn zum Streben nach wirtschaftlichem Erfolg für ihr Land antrieb, stellt das calvinistische Bekenntnis der Landesherrn dar. Die Normen und Maximen calvinistischer Lebensführung lassen nach Max Weber die preußische Staatselite eine Ar-beitsmoral entwickeln, bei der wirtschaftlicher Erfolg, Effizienz und Gemeinnützigkeit der Staatsverwaltung ein richtungsweisendes und modernes Bündnis eingehen, das für den wirt-schaftlichen Aufstieg Preußens nicht unerheblich ist.
Diese Zusammenhänge lassen sich ins-besondere für den zweiten für die Wirtschaft des klassischen Preußens wichtigen Herrscher, den Soldatenkönig, nachweisen. Er formt nicht nur eine europäische Militärmacht, sondern lässt das Land auch wirtschaftlich einen bedeutenden Sprung nach vorne machen. In der Regierungszeit des Soldatenkönigs, in der das „Plusmachen“, also das Streben nach dauerndem wirtschaftlichen Gewinn, im Mittelpunkt der Politik steht, erreicht Preußen ökonomische Stabilität und Prosperität. Erst diese Grundlage ermöglicht seinen Aufstieg auch zu einer der Wirtschaftsmächte Deutschlands im 18. Jahrhundert und lässt die militärische Expansion seines Sohnes, Friedrich II., in den darauffolgenden Jahrzehnten überhaupt erst denkbar werden.
Im Gegensatz zu den meisten anderen Ländern des fürstlichen Absolutismus, in denen vor allem. auf die Luxusbranchen gesetzt wird, fördert der Soldatenkönig mit seinen neu eingerichteten Zentralbehörden Außenhandel, Landwirtschaft und das Großgewerbe wie z. B. die große Wolltuchmanufaktur des Berliner „ Lagerhauses“, in dem alleine schon 1735 etwa 5.000 Menschen tätig sind. Bei seinem Tod 1740 hinterläßt er dem Land in den Kellern des Berliner Stadtschlosses einen Staatsschatz von acht Millionen Talern.
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts unter Friedrich II. erfährt die Wirtschaft des Landes durch die langjährigen und auch kostspieligen Kriege des Preußenkönigs eine ziemliche Zerrüttung. Andererseits gelangen durch die Eroberung Schlesiens auch neue, zukunftsträchtige Bergbauregionen mit Bodenschätzen in das preußische Herrschaftsgebiet.
Im Bereich der landeskulturellen Arbeiten, insbesondere durch die Kolonisation, Trockenlegung und Urbarmachung des Oder- sowie des Netze- und Warthebruchs mit der Ansiedlung großer Zahlen von Siedlern vor allem aus dem westlichen Reichsgebiet, erreicht aber auch Friedrich II. wirtschaftliche Fortschritte. So verdreifachen sich in seiner beinahe ein halbes Jahrhundert dauernden Regierungszeit die Staatseinnahmen Preußens von sieben Millionen auf rund 20 Millionen Taler. Die Wirkungen der für Preußen typischen Staatswirtschaft auf die ökonomische Entwicklung des Landes sind in der Forschung umstritten. Tatsache ist aber, dass Preußen in den eineinhalb Jahrhunderten zwischen dem Ende des Dreißigjährigen Kriegs und den Napoleonischen Kriegen deutliche wirtschaftliche Fortschritte erreicht. Der modernste Staat des 17. und 18. Jahrhunderts gehört um 1800 auch ökonomisch zu den am meisten entwickelten Staaten Europas.
Die Katastrophe der napoleonischen Besetzung bringt Preußen auch wirtschaftlich an den Rand des Zusammenbruchs. Insofern sind die Reformgesetze der Zeit nach 1806, was ihre wirtschaftlichen Bereiche und Folgen betrifft, auch eine bittere Notwendigkeit, um den Staat überhaupt noch wirtschaftlich-finanziell am Leben zu erhalten. Tatsächlich gehören die wirtschaftlichen Reformen nach 1806 zu den erfolgreicheren Neuerungsmaßnahmen des gesamten Staats- und Sozialgefüges Preußens zu Beginn des 19. Jahrhunderts.
Mit der zumindest nominellen Bauernbefreiung ist eine Voraussetzung des folgenden wirtschaftlichen Aufschwungs der nächsten Jahrzehnte gegeben. Ähnliches gilt für die Gewährung der vollständigen Gewerbefreiheit, da diese überhaupt erst die Mobilität großer Menschenmassen, die Bewegung der ländlichen Bewohner Preußens in die wachsenden Industriestädte des Landes möglich macht.
Die preußische Staatsverwaltung ihrerseits erreicht mit einigen wichtigen Maßnahmen, der zu diesem Zeitpunkt darniederliegende Wirtschaft des Landes auf die Beine zu helfen. Zum einen verwirklicht Preußen mit dem Zollgesetz von 1818 zunächst ein eigenes einheitliches Zollgebiet ohne Binnenzölle.
Der preußisch-hessische Zollverein von 1828 erweitert dieses zollfreie Gebiet, bis dann Preußen als wichtigstes Gründungsmitglied des Deutschen Zollvereins von 1834 mit dem „zollpolitischen Sprung über den Main“ dessen deutschlandweite Vergrößerung erreicht, das bereits dasjenige des späteren Deutschen Kaiserreiches annähernd vorwegnimmt. Darüber hinaus gelingt es der preußischen Wirtschafts- und Bildungsbürokratie, durch die Gründung von neuen Gewerbe- und Technikerschulen (v.a. das von Christian Peter Wilhelm Beuth gegründete Berliner Gewerbeinstitut von 1821) sowie durch die gezielte Förderung der Anwendung der neuesten technologischen Kenntnisse den wirtschaftlichen Fortschritt durch geeignetes Personal und innovative Methoden zu unterstützen.
Dabei wird durchaus auch zu Mitteln der „Industriespionage“ in England gegriffen.
Somit wird Preußen seit etwa 1830 zwar wesentlich später als etwa England als Mutterland der Industriellen Revolution von der Industrialisierung erfasst, aber mit Ausnahme Sachsens in wesentlich stärkerem Maße als die übrigen mitteleuropäischen Staaten. Einen bedeutenden Anteil daran, dass Preußen jetzt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die wachsende Wirtschafts- und Industriemacht in Mitteleuropa wird, hat der territoriale Zugewinn, den das Land durch den Sieg über Napoleon und den Wiener Kongress erreicht.
Mit dem Erwerb des Rheinlandes 1815 verfügt Preußen im 19. Jahrhundert mit dieser Region sowie der durch die Residenz- und Hauptstadtfunktion wirtschaftlich potenten Berliner Zentrallandschaft und Schlesien über die drei ökonomischen Wachstumsregionen Mitteleuropas. Durch die in den folgenden Jahren erschlossenen Kohlevorkommen in Schlesien und dem Rheinland sowie der dort folgenden rasanten Industrialisierung wächst Preußen auch in wirtschaftlicher Hinsicht bis Mitte des 19. Jahrhunderts zu einer europäischen Großmacht heran.
Von großer Bedeutung für die politische Entwicklung in Deutschland ist dabei auch die Tatsache, dass Preußen in seiner wirtschaftlichen Potenz Österreich als die bisherige Hegemonialmacht in Mitteleuropa überholt.
Obgleich Österreich ein etwa doppelt so großes Staatsgebiet mit einer etwa doppelt so großen Bevölkerung als Preußen aufweist, ist die Hohenzollernmonarchie dem Habsburgerstaat um 1865 in vielen wirtschaftlichen und infrastrukturellen Bereichen auch in absoluten Zahlen deutlich voraus. So sind in Österreich sind noch 70% der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig, in Preußen dagegen bereits nur noch 45%. Die preußische Getreideernte übertrifft trotz des halb so großen Staatsgebietes diejenige Österreichs. Vor allem im industriellen Bereich ist Preußen inzwischen haushoch überlegen: das Eisenbahnnetz ist beinahe doppelt so lang, Preußen verfügt über beinahe fünfmal so viele Dampfmaschinen als Österreich. Die Staatseinnahmen beider Länder sind trotz des Größenunterschieds annähernd gleich.
Insgesamt erreicht Preußen im Industrialisierungszeitalter viel größere Fortschritte als Österreich. Es entwickelt sich im 19. Jahrhundert hinter England und Frankreich zur dritten Wirtschaftsmacht auf dem Kontinent. Nachdem es politisch bereits eine Großmacht darstellt, wird es eine solche jetzt auch auf wirtschaftlichem Gebiet. Durch diesen rasanten wirtschaftlichen Aufstieg wird die politische Frontstellung gegenüber der Habsburgermonarchie um die Frage der klein- oder großdeutschen Einigung überhaupt erst möglich und Preußen gewinnt in dieser Frage deutschlandweit zusätzlich an Ansehen und Gewicht.
Wie schnell die Industrialisierung in Preußen auch im Kaiserreich zunimmt, zeigt die Entwicklung des Anteils der Erwerbstätigen in den Beschäftigungszweigen von Industrie, Handwerk und Bergbau zwischen 1871 und 1907 von 30,4% auf 42,8%.
Allerdings verläuft dieser Prozess regional sehr unterschiedlich: in der Provinz Ostpreußen nimmt der Anteil dieser Wirtschaftszweige nur von 16,1% auf 20,4%, in der Rheinprovinz dagegen von 41,3% auf 54,5% zu. Allerdings liegt der Industrialisierungsgrad Gesamt-Preußens lange Zeit noch unter dem Reichsdurchschnitt und Preußens Wirtschaft leistet im Verhältnis gesehen nichts überdurchschnittliches: im Jahr 1913 werden hier 62% des Nettosozialprodukts des Deutschen Reiches erwirtschaftet, eine Zahl, die genau dem Anteil der preußischen an der gesamten Reichsbevölkerung entspricht.
Obgleich Preußen aber in wirtschaftlicher Hinsicht insgesamt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer Großmacht aufsteigt, stellt der Hohenzollernstaat bis weit in das 19. Jahrhundert hinein immer noch primär einen Agrarstaat dar. Diese doch noch für lange Zeit wichtige Ausrichtung der Erwerbstätigkeit auf die Landwirtschaft und gerade ihre besondere Ausprägung mit der ostelbisch-preußischen Gutswirtschaft bestimmt eben auch wesentlich das Staats- und Politikverständnis der preußischen Eliten.
Dies wirkt sich nicht nur insgesamt auf die politische Kultur Preußen-Deutschlands aus, sondern erzeugt auch immer wieder retardierende Momente in der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes, etwa bei den umfangreichen Subventionen gerade für die ostelbische Landwirtschaft seit den 1880er Jahren sowie beim ausgeprägten Dirigismus und Protektionismus, den gerade diese Agrarlobby in Preußen auch im Kaiserreich durchsetzen kann. Allerdings profitieren auch andere Regionen und Branchen wie etwa die Schwerindustrie wie in fast allen europäischen Ländern dieser Zeit (mit Ausnahme Englands) von einer solchen Schutzzollpolitik.
Obgleich die politische Bedeutung Preußens im Deutschen Reich seit 1871 zu sinken beginnt, stellt das Land Preußen immer noch das wirtschaftlich mächtigste des Kaiserreiches dar, in dem sich mit dem Rheinland, Berlin sowie Schlesien neben Sachsen und der Frankfurter Region die wichtigsten Wirtschaftskerne des Reiches befinden.
In der Weimarer Republik versucht die sozialdemokratische Regierung Otto Brauns eine betont sozial ausgerichtete Wirtschaftspolitik durchzusetzen, zu der etwa die besondere Förderung von Kleinsiedlungen sowie umfangreiche Maßnahmen für alle Bereiche der Wirtschaft im Rahmen der „Osthilfe“ zählen.
Trotz der Momente der Rückwärtsgewandtheit und des Protektionismus überwiegen die modernen, innovativen Züge der staatlichen Lenkung der Wirtschaft in der Hohenzollernmonarchie über die Jahrhunderte hinweg gesehen eindeutig. Preußens Staatsideologie ist von Aufstieg und Dominanz beherrscht.
Die dazu notwendige wirtschaftlichen Fortschrittlichkeit erreicht das Land in zähen Kämpfen und mit innovativen Methoden, mit einer stabilisierenden, sparsamen und zumeist am Prinzip der Gemeinnützigkeit der Wirtschaft des Landes ausgerichteten Politik, die aus der belächelten, armen Sandregion am Rande des Reiches auch eine wirtschaftliche Großmacht werden lässt. Zusammen mit der ausgeprägten Rechtsstaatlichkeit Preußens sowie seiner vorbildlichen Kultur- und Bildungspolitik gehört somit die Wirtschaftspolitik zu den positiven Seiten des Modells Preußen. Sie kann für die reichlich vorhandenen Probleme der gegenwärtigen Wirtschaftspolitik in ihren positiven Ansätzen durchaus als ein zu studierendes Modell aus der Vergangenheit herangezogen werden.