Preußens ständische Gesellschaft: König - Junker - Bürger - Volk
Durch die Stärkung der territorialen Fürstentümer im Reich nach dem Dreißigjährigen Krieg 1618-1648 kam es auch zur Festigung der ständischen Ordnung und - damit verbunden – zur Herausbildung des fürstlichen Absolutismus in den deutschen Ländern. Mit dem Aufbau einer staatlichen Zentralgewalt und eines stehenden Heeres schuf Friedrich Wilhelm, der Große Kurfürst (1640-1688), auch einen frühabsolutistischen Staat in Preußen. Damit verlor der Adel zwar seine politischen Vorrechte aus der Ständeordnung, wurde aber gleichzeitig in seiner sozialen Herrschaft gefestigt.
Auf dem brandenburgischen Landtagsabschied von 1653 wurde die Erbuntertänigkeit bzw. Leibeigenschaft der Bauern gegenüber dem Adel festgelegt und die gutsherrliche Abhängigkeit der Bauern und Landarmen neu besiegelt. Das festigte die Basis der bestehenden Ordnung und bedeutete letztendlich eine Grundsatzentscheidung für die Richtung und den Charakter der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung. Bis ins 19. Jahrhundert sicherte dieser Herrschaftskompromiss die beherrschende Position des Adels.
Der größte Teil der Bevölkerung in Preußen lebte auf dem Lande und von der Arbeit in der Landwirtschaft. Der grundbesitzende Adel hatte seine ökonomische und gesellschaftliche Basis in seiner ländlichen Herrenstellung. Trotz großer Flächen landesherrlichen Domänenbesitzes herrschte der Adel auf dem Lande. Das resultierte vor allem aus dem Obereigentum an Besitzrechten, welches sich in den deutschen Ländern auf 70 Prozent der Landbevolkerung erstreckte. Hier konnten die Adligen ihre Ansprüche auf Zinsgelder, Naturalabgaben und Dienstleistungen weiterhin geltend machen. Sie waren gleichzeitig Gerichtsherren, Träger der Polizeigewalt und auch Patronatsherren über Kirche und Schule. Steuer- und Zollfreiheit sicherte dem Adel kommerzielle Vorteile, auch gegenüber der städtischen Kaufmannschaft. Die wenigen Städte waren ebenfalls landwirtschaftlich geprägt. Es existierte ein schwach entwickeltes Bürgertum. Weitgehend vom preußischen Militärdienst befreit, oblag ihnen Handel und Gewerbe.
Das in Europa mit den außereuropäischen kolonialen Erorberungen seit dem 16. Jahrhundert gewachsende Bedürfnis nach Kolonialwaren und Manufakturprodukten veranlasste auch den preußischen Adel – allerdings nur in Europa - Handel zu treiben. Unter den landwirtschaftlichen Produkten wurde besonders Getreide bis in die Niederlande und England exportiert. Parallel dazu räumte der Landesherr dem Adel eine vorrangige Position beim Aufbau der Armee und dem zentralen Beamtenapparat ein. Die Doppelrolle des Adels im militärischen und zivilen Bereich ließ den Junker entstehen. Mit den wachsenden wirtschafts- und rechtspolitischen Unternehmerinteressen des Adels festigten sich in Preußen die Grundlagen der junkerlichen Gutswirtschaft und damit das Überleben von adliger Herrenmentalität, Standesdünkel, militärischer Ehrenkodex und antiliberaler und antidemokratischer Positionen.
Eine besondere Bedeutung besaßen die Domänenpächter bzw. Amtmänner, die seit dem ersten Drittel des 18. Jahrhunderts, zuerst in Ostpreußen, später im Gesamtstaat als Pächter der königlichen Domänen fungierten und denen die Einkünfte gegen ein Fixum überlassen wurden. Die Domänen waren ursprünglich das fürstliche Kammer- und Krongut. Angesichts des bedeutenden Umfangs des Domämenbesitzes (rund elf Prozent des gesamten Grund und Bodens) war ihre Zahl beachtlich. Durch die von den Generalpächtern praktizierten Unterverpachtungen gab es um 1800 allein in der Mark Brandenburg rund 720 Pächter, im gesamten preußischen Staat, zusammen mit denen adliger und korporativer Güter, etwa 2.000. Nur begüterte Bürgerfamilien konnten pachten. Ihre Familien waren häufig städtische Magistratsmitglieder, wohlhabende Brauer und Handwerker, Gastwirte, Lokalbeamte, aber auch begüterte Bauern. Die Generalpächter - gleichgestellt mit Funktions- und Berufskategorien wie mittlere Beamte, Verlags- und Manufakturunternehmer oder auch Oberkaufleute - waren durch das Reglement von 1792 dem oberen Bürgerstand zugerechnet worden und damit selbst wie auch ihre Söhne vom Militärdienst befreit. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts setzte sich eine Art Erbfolge in der Verpachtung durch. Die Domänenpächter gehörten zu den wohlhabenden bürgerlichen Unternehmern und bildeten auch eine wesentliche Quelle für den preußischen Beamten- und Offiziersstand.
Die landwirtschaftliche Produktion auf der Basis der Gutsherrschaft erwies sich bis in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts in Preußen als rentabel. Sie sicherte das lange Überleben der gutsherrlichen Agrarstruktur. Erst die Folgen der Französischen Revolution von 1789 gaben den Anstoß für alternative Veränderungen der landwirtschaftlichen Verhältnisse. Die starre soziale Herrschaftsstruktur in Preußen und ihre Sanktionierung durch den König führten zunächst durch das Allgemeine Landrecht von 1794 zur erneuten juristischen Bekräftigung der Verhältnisse. Alle bestehenden Rechte am Boden, alle Beschränkungen der persönlichen Freiheit der Landbevölkerung und alle Rentenformen wurden erneut als geltendes Recht fixiert. Die seit 1799 anlaufenden Versuche, Domänenbesitz gegen Entschädigung in bäuerliches Eigentum umzuwandeln, blieben angesichts fehlender Veränderungen im gesamten agrarischen Bereich beschränkt. Die Bauern erhielten ein Erbzinseigentum an ihren Höfen, jedoch kein juristisch unbeschränktes Eigentum. Dieser Rechtsstatus war beispielsweise in den Kammerdistrikten Magdeburg und Halberstadt schon seit jeher verbreitet. Erst 1808 erhielten alle Domänenbauern das volle Eigentumsrecht an ihren Höfen zuerkannt. An die Umwandlung gutsuntertänischer Bauernstellen in unabhängige Bauernstellen war in Preußen nicht zu denken, die Bauern blieben weiterhin in einem Abhängigkeitsverhältnis.
Erst die Niederlage im Krieg gegen das napoleonische Frankreich 1806/07 gab den Anstoß zur Einleitung von umwälzenden Reformen in Staat und Gesellschaft Preußens. Diese wurden im wesentlichen vom Minister Heinrich Friedrich Karl Reichsfreiherr vom und zum Stein (1807-1808) und Staatskanzler Karl Augusut Fürst von Hardenberg (1810-1822) eingeleitet. Mit dem Regulierungsedikt von 1811, den Reformgesetzen von 1811 und 1821 wurden alle feudalen Eigentumsrechte an Bauernland und alle Feudalrenten gegen Entschädigung ablösbar. Angesichts der Tatsache, dass noch immer der größte Teil der Bevölkerung auf dem Lande und von der Arbeit in der Landwirtschaft lebte, und der grundbesitzende Adel seine ökonomische und gesellschaftliche Basis in seiner ländlichen Herrenstellung hatte, bildeten die Agrarreformen eine wesentliche Grundlage für die bürgerliche Entwicklung in Preußen. Ihre Umsetzung verlangte ein ganzes Bündel gesetzlicher Maßnahmen und vollzog sich über einen längeren Zeitraum bis zur Mitte des Jahrhunderts.
Der preußische Beamtenapparat hat diese Aufgabe im Sinne einer Erhaltung und Sicherung der monarchischen Ordnung bei gleichzeitiger Konservierung der vornehmlich staatstragenden Schicht, dem grundbesitzenden Adel, positiv bewältigt. Eine klug konzipierte Landeskulturgesetzgebung hat die juristische Auseinandersetzung zwischen Adel und Bauern wirksam begleitet und das Aufblühen der preußischen Landwirtschaft im 19. Jahrhundert vorbereitet. Die erfolgreiche, konsequent zu Ende geführte Umwandlung von lehnsrechtlichem Eigentum in bürgerliches Eigentum erhielt dem Adel auch in wirtschaftlicher Hinsicht seine Machtpositition. Parallel dazu konnte sich eine zahlenmäßig starke und ökonomisch stabile Mittel- und Großbauernschaft erhalten. Sie wurde zur treuen, zuverlässigen Stütze der preußischen Monarchie und stand der Masse der landlosen und landarmen Bevölkerung gegenüber.
Das städtische Bürgertum war in Preußen und im Reich nicht besonders stark entwickelt. Ihm waren Handel und Gewerbe zugewiesen. Es musste ebenso wie die Landbevölkerung für die Steuereinnahmen des Staates aufkommen. Erst mit dem wirtschaftlichen Aufschwung Preußens und dem Wandel Deutschlands vom Agrar- zum Industriestaat in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstand in den großen Städten und Wirtschaftszentren ein neues, finanzkräftiges und selbstbewusstes Bürgertum. In den kleineren Städten wuchs die bürgerliche Schicht vor allem aus den höheren Beamten- und Akademikerfamilien. In der sozialen Differenzierung nach Einkommen und Lebensstandart enstanden das Bildungsbürgertum und das Besitzbürgertum. Nach 1871 gab die alte Führungsschicht des preußischen Adels einen Teil seiner politischen Macht an die neue bürgerliche-gesamtdeutsche Schicht ab, die sich aus Gutsbesitzern und aus dem Großbürgertum zusammensetzte. Die Integrationsfähigkeit des Bürgertums in das preußisch-monarchistische System resultierte aus gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen.