"Prussifizierung" - neue Länder werden preußisch
Der 16. Juli 1866 geht als ein dunkler Tag in die stolze Geschichte der Stadt Frankfurt am Main ein, den geschichtsbewusste Frankfurter bis heute nicht vergessen können. In die wichtige Banken- und Handelsmetropole am Main, die seit einem halben Jahrhundert als Sitz des Deutschen Bundes so etwas wie die „heimliche“ deutsche Hauptstadt darstellt, marschieren preußische Truppen ein und besetzen die Stadt. Der preußische Befehlshaber, General Vogel von Falckenstein, lässt die widerspenstige, aber reiche Stadt die ganze Härte des Krieges spüren. Er fordert hohe Requisitionen, es erfolgen Zwangseinquartierungen und er befiehlt eine sofort zu beschaffende Kontribution in der stolzen Höhe von 5 Millionen Gulden. Sein Nachfolger, General Edwin von Manteuffel, fordert ein paar Tage später gar 25 Millionen Gulden Kontribution, eine Summe, die etwa zehn Mal so hoch ist wie die gesamten jährlichen Einnahmen der Stadt. Er droht mit Plünderungen, wenn das Geld nicht bald beschafft wäre. In seiner tiefen Verzweiflung, wegen der hohen Geldforderungen und von beiden Seiten unter Druck gesetzt, nimmt sich der Regierende Bürgermeister Fellner das Leben. Der Frankfurter Senat wendet sich als letztes Mittel an Frankreich und England und erhofft sich von dieser Seite Hilfe gegen die preußische Okkupation. Dieser Appell an internationale Hilfe misslingt aber, weil Bismarck sich im Hintergrund schon mit dem französischen Kaiser Napoleon III. über die Annexion Frankfurts geeinigt hat. Die republikanische Eigenständigkeit, die die Stadt seit dem hohen Mittelalter genießt, findet ein gewaltsames Ende: Frankfurt wird in diesem Sommer in das preußische Königreich einverleibt. Die Stadt erhält allerdings schon nach wenigen Tagen der militärischen Besetzung ihren alten Senat wiedereingesetzt, der sich auch bald, allerdings auf der Grundlage einer nunmehr zum Königreich Preußen gehörigen Stadt, zur Zusammenarbeit mit der neuen staatlichen Macht einlässt.
Dieser äußerst dramatische Vorgang des Kriegssommers 1866 stellt ein Beispiel für eine gewaltsame, auf militärischer Unterdrückung beruhenden Einbeziehung eines neuen Bestandteiles Preußens dar, der für die Einverleibung bisher fremder Gebiete in den preußischen Staat durchaus untypisch ist. Sie hat im Falle Frankfurts, bei dessen Integration es sich um eine Stadt handelt, die überdies dem Liberalismus verpflichtet ist und ganz im Süden des von Preußen einverleibten Gebietes liegt, mit der Vorgeschichte des Krieges gegen Österreich 1866 zu tun, in dem sich Frankfurt auf die Seite des Habsburgerstaates schlägt.
Wie geht Preußen generell mit den im Laufe seiner Geschichte zahlreichen Gebietserwerbungen und territorialen Eroberungen um? Nimmt der preußische Staat Rücksicht auf regionale Traditionen und lässt er den Bewohnern der einverleibten Gebiete gewisse Spielräume oder wird alles zentral von Berlin aus bestimmt und werden regionale Bedürfnisse unterdrückt? Um diese Frage auf die lange Sicht der preußischen Geschichte unter die Lupe zu nehmen, bedarf es einer Rückblende auf die Anfänge und einige Konstanten der Existenz dieses staatlichen Phänomens.
Bereits in den Geburtsumständen der künftigen Großmacht Preußen und in den ersten Jahrzehnten seiner Existenz liegen die Wurzeln, die die spätere Expansion des Staates bestimmen werden. Aus dem Kerngebiet der Mark Brandenburg zwischen Aller und Warthe heraus agierend, gelingt es den Hohenzollern schon früh durch eine zielstrebige Bündnis-, Heirats- und Erbvertragspolitik, ihren kurfürstlichen Besitz territorial auszuweiten. Durch die Gewinnung der Gebiete im Westen ( Kleve, Mark und Ravensberg 1614) sowie den Erwerb von Ostpreußen (als Lehen seit 1618, endgültige Souveränität 1660) fügen sie zu diesem brandenburgischen Kernbereich lockeren Streubesitz ganz im Osten und Westen des Reiches hinzu, der insgesamt nur durch die Person des Landesherrn zusammengehalten wird. Dieser fragmentarische Charakter der weiter zerstreut liegenden Gebiete schreit geradezu, zumindest im Verständnis dieser Zeit, nach territorialer Verknüpfung und so versucht Preußen in den folgenden Jahrzehnten, eine Arrondierung des bestehenden Staatsgebietes zu erreichen. Die Hohenzollernmonarchie stellt deshalb, und dies macht ein Gutteil seines Mythos aus, in den folgenden zwei Jahrhunderten einen Staat dar, der immerzu neue Gebiete in sein Territorium einverleibt. Ein Moment der Expansion und Machtausdehnung ist preußischer Politik von nun an immanent, von wenigen Phasen des Stillstandes oder teilweise sogar des Rückschritts etwa während der Schlesischen Kriege oder der Napoleonischen Besetzung abgesehen.
Aufgrund der Entstehungsgeschichte Preußens, das über keine so enge Verbindung von tragender Dynastie, Staatsgebiet und autochthoner Bevölkerung verfügt wie etwa Bayern oder Sachsen, wegen dieses größeren Kunstcharakters des Staates also, scheint dieser immerwährende Wachstums- und Integrationsprozess auch besonders gut zu funktionieren, wie sich in den folgenden Jahrhunderten zeigt.
So wie alle anderen Staaten in Mitteleuropa, weist auch der preußische Staat in der Frühen Neuzeit, also während des gesamten 17. und auch noch lange Zeit im 18. Jahrhundert, stark regional geprägte Herrschaftsräume auf. Trotz der bald einsetzenden Zentralisierungstendenzen bleiben die einzelnen Territorien zunächst noch lange relativ unabhängig und selbständig, und dies gilt im Falle Preußens vor allem für die im Westen gelegenen Gebiete. Doch die Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg ist auch durch intensivierte Prozesse der staatlichen Integration und Zentralisierung gegenüber den selbstbewussten und starken Provinzen gekennzeichnet.
Der Kurfürst Friedrich Wilhelm versucht schon 1651 mit der Reorganisation des Geheimen Rates, die große Eigenständigkeit der Provinzen zu durchbrechen, die dann nach und nach zu untergeordneten Einheiten des Gesamtstaates heruntergedrückt werden. Ein Beispiel für das in dieser Zeit durchaus auch äußerst brutale Vorgehen des brandenburgischen Kurfürsten gegen einzelne Provinzen, die sich diesen Zentralisierungstendenzen widersetzen, ist der Fall der ostpreußischen Landstände. Hier versucht Oberst Christian Ludwig von Kalckstein, sich der Unterordnung seiner Provinz in den entstehenden brandenburg-preußischen Gesamtstaat, zu widersetzen, allerdings erfolglos. Als er in Warschau die polnische Regierung gegen die Unterstellungsmaßnahmen der Provinz in Brandenburg-Preußen mobilisieren will, lässt ihn Kurfürst Friedrich Wilhelm in der polnischen Hauptstadt kurzerhand verhaften und 1672 in Memel trotz polnischer Proteste aburteilen und hinrichten.
Aber selbst 1701, bei der Erhebung zum Königreich, war Preußen noch keineswegs ein zentralisierter Einheitsstaat, sondern, wie Otto Hintze feststellte, „ein Aggregat von Territorien, die ihre alten besonderen Verfassungen und Verwaltungseinrichtungen zum großen Teil noch bewahrt hatten und eifersüchtig festhielten“.
Erst unter Friedrich Wilhelm I.und Friedrich II. werden endgültig stärkere Zentralisierungstendenzen wirksam, etwa mit der Einrichtung des Generaldirektoriums 1723. Friedrich II. erklärt in seinem politischen Testament von 1752 die richtungsweisende Absicht, „aus allen diesen Provinzen, auch wenn sie verstreut liegen, einen zusammenhängenden Körper zu bilden“.
In der Regierungszeit Friedrichs II. vollziehen sich wieder gebietsmäßige Erweiterungen Preußens, die für die Art und Weise der Integration in den bestehenden Staat typisch für das 18. Jahrhundert sind. Das seit 1742 aus österreichischem Besitz eroberte Schlesien bedeutet für den preußischen Staat nicht nur einen beträchtlichen Gebietszuwachs von etwa einem Drittel seines bisherigen Territoriums. Durch die dort befindlichen Bodenschätze erlangt Schlesien schon im 18. Jahrhundert, noch mehr als eines der wichtigsten preußischen und deutschen Industriegebiete im 19. und 20. Jahrhundert eine außergewöhnliche wirtschaftliche Bedeutung. Trotz des hohen Anteil katholischer Untertanen, der bei knapp der Hälfte der Bevölkerung liegt, gelingt die Integration Schlesiens in den preußischen Staat alles in allem aber bereits im 18. Jahrhundert, denn entsprechend dem vor allem durch Friedrich II. praktizierten Toleranzprinzip wird der Bevölkerung freie Religionsausübung zugesichert. Nicht ganz zufällig genehmigt Friedrich den Berliner Katholiken gleich 1745 die Errichtung einer repräsentativen Kirche an durchaus herausgehobener Stelle in seiner Residenz: die 1773 geweihte St. Hedwigs-Kirche.
Bei der Eroberung durch den jungen Preußenkönig vorhandene Vorbehalte in der Bevölkerung verwandeln sich relativ schnell, spätestens nach dem Siebenjährigen Krieg, in eine pro-preußische Stimmung, erkennbar gerade bei der (im Gegensatz zu Berlin) allgemeinen Trauer beim Tod des Preußenkönigs 1786. Verwaltungstechnisch befördert der König den Einbau der neuen Provinz in den preußischen Staat, indem er durch einen besonderen, unmittelbar dem König unterstellten Minister eigens für Schlesien dessen Integration systematisch fördert.
Ganz anders liegen die Zusammenhänge beim territorialen Zugewinn Ostfrieslands 1744, das als etwas fragwürdige Erbschaft an die Hohenzollern gelangt. Aufgrund der eher von Herrschaftslosigkeit und ständisch-partikularistischem Chaos geprägten Zeit vor dem Wechsel zu Preußen sind hier die allgemeinen Sympathien von Beginn an bei der neuen preußischen Herrschaft, obgleich der König selbst die neue Provinz im Nordwesten des Landes als mögliches Tauschobjekt (gegen Sachsen oder Mecklenburg) betrachtet. Dennoch stellt die Integration Ostfrieslands in die preußische Monarchie insgesamt eine politisch problemlose und gleichzeitig eine wirtschaftliche Erfolgsgeschichte dar, die in ihren Wirkungen in der Bevölkerung bis heute anhält.
Am Beispiel der größten und wichtigsten Provinz, die Preußen zu Beginn des 19. Jahrhunderts zufällt, lässt sich aufzeigen, dass sich die Zeiten für den Umgang mit eroberten oder zugefallenen Gebieten ganz allgemein geändert haben. Sie zeigen auch, dass der preußische Staat durchaus zu einer differenzierten und behutsamen Integration fähig ist. Mit dem Wiener Kongress erhält Preußen als wichtigsten territorialen Zugewinn neben der Provinz Sachsen im Westen des Reiches Westfalen und das Rheinland zugesprochen. Dabei handelt es sich um eine Gebietseinverleibung, die in zweierlei Hinsicht mit Schwierigkeiten behaftet ist. Zum einen betrifft es wiederum ein Territorium mit überwiegend katholischer Bevölkerung. Zum anderen haben sich im Rheinland im Gefolge der Französischen Revolution und der Besetzung durch Napoleon mit der Einführung u.a. des Code civil liberale und rechtsstaatliche Traditionen herausgebildet, die mit der Ausrichtung der politischen Kultur in Preußen nicht gerade konform gehen, zumal in der nun anbrechenden Zeit der Reaktion und der vom preußischen König nicht gewährten Verfassung.
Dennoch gelingt dem preußischen Staat die Integration dieses widerspenstigen territorialen Zugewinns in erstaunlich reibungsloser Weise. Ganz erheblich zum Erfolg der Integration trägt dabei die wirtschaftliche Erfolgsgeschichte des in den nächsten Jahren entstehenden rheinisch-westfälischen Industriegebietes bei. Davon profitiert der preußische Staat in erheblichem Maße, wie das rheinische Bürgertum und mit ihm die gesamte Bevölkerung von dem durch Preußen verwirklichten großen zollfreien Gebiet wirtschaftlichen Nutzen zieht. Darüber hinaus verdient sich Preußen aus der Sicht der rheinischen Bevölkerung und insbesondere des Bürgertums weitere Meriten bei seiner Rolle, die es angesichts der heraufziehenden nationalistischen Welle gegenüber Frankreich als „Wacht am Rhein“ spielt.
Schließlich erreichen die Vertreter der Provinz Rheinland sogar erstaunliche Zugeständnisse des vermeintlichen preußisch-reaktionären Einheits- und Machtstaates an rheinisch-freiheitlichen Traditionen, indem die liberale rheinische Rechts- und Justizverfassung aufrechterhalten wird.
Doch trotz dieser insgesamt als Erfolgsgeschichte zu betrachtenden Integration des Rheinlandes in den preußischen Staat sind die gleichzeitig vorhandenen deutlichen Grenzen preußischer Toleranzbereitschaft auf einigen Gebieten nicht zu übersehen. Am deutlichsten wird dies im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen zwischen preußischem Staat und der rheinischen Kirche in den sogenannten „Kölner Wirren“ von 1837. Der Kölner Erzbischof von Droste zu Vischering bezahlt seine Ablehnung der konfessionellen Mischehe mit der Inhaftierung auf der Festung Minden, worauf in Köln Unruhen ausbrechen. Wenig anfreunden können sich die Rheinländer in ihrer Lebensart mit dem überall durchscheinenden neuen militärischen Drill und der polizeiliche Grobheit der neuen Herrscher, die sie aber mit ihrem Humor im Karneval als wichtigem Beitrag zum deutschen Kulturleben schließlich doch ganz störungsfrei zu sublimieren verstehen.
Gerade bei der Integration der Rheinlande in den preußischen Staat zeigt sich, das gleichzeitig zwei Prozesse ablaufen. Zum einen wird die Provinz am Rhein natürlich von den gesamtstaatlichen Strukturen, in die sie eingebunden ist, sowie auch von großen Teilen der dort herrschenden politischen Kultur beeinflusst und insofern „prussifziert“. Auf der anderen Seite bleibt aber auch der preußische Staat nicht das, was er vor 1815 ist. Die rheinische Wirtschaftskraft, der rheinische Liberalismus und die wichtigen liberalen Politiker aus der Provinz beeinflussen ihrerseits den preußischen Gesamtstaat, der insgesamt eine Westverschiebung seiner Kernachse erfährt, wenn er in seinen bestimmenden Grundkonstanten auch erhalten bleibt. Und Preußen betreibt seine Integration des Rheinlandes insgesamt sehr behutsam. Es gibt zwar immer wieder Versuche einer verstärkten Zentralisierung, die sich aber im Wesentlichen nicht durchsetzen können. Eine systematisch angelegte und forcierte „ Verpreußungspolitik“ im Rheinland, die über die institutionelle Einpassung in den Staat hinausgeht, ist nicht erkennbar. So arrangieren sich beide Seiten, abgesehen von den anfänglichen Problemen, nach und nach zu einer Vernunftehe, die aber über diese Qualitätsstufe auch nicht hinaus geht. Denn bei der erst besten Gelegenheit erhebt der rheinische Separatismus unter dem Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer nach dem Untergang des Hohenzollernstaates 1919 sein trotziges Haupt, dem es aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg gelingt, die Rheinlande nach eineinhalb Jahrhunderten Zugehörigkeit wieder von Preußen zu lösen.
Neben diesem hier für die Rheinlande aufgezeigten Konzept, das durch eine stark Rücksicht nehmende Vorgehensweise gekennzeichnet ist, kann sich Preußen aber bei der Integration von neuen Gebieten auch weniger zimperlicher Mittel bedienen, wenn dies für notwendig oder als angemessen angesehen wird. Bei der Einverleibung des nördlichen Staatsgebietes des Königreiches Sachsen um Magdeburg, Halle und Erfurt sowie Teilen der Lausitz, das ebenfalls mit dem Wiener Kongress 1815 zu Preußen gelangt, wendet Preußen ein wesentlich stärker repressiv geprägtes Modell an. So werden für die Provinz Sachsen die alten sächsischen Verwaltungstraditionen ganz bewusst und systematisch zerschlagen. Aber auch hier profitieren die ehemals sächsischen Bewohner der neuen Provinz Sachsen von dem wesentlich moderneren Kurs, der in Preußen in Wirtschaft und Verwaltung gefahren wird im Vergleich zum lange Jahre gemächlich in den alten Bahnen verweilenden Rest-Sachsen. Auch bei den im Zuge der Einverleibung der nördlich des Mains gelegenen Gebiete der Gegner Preußens im Krieg gegen Österreich 1866 wendet Bismarck teilweise durchaus rabiate Methoden der Integration an. Der Fall Frankfurt ist eingangs bereits erwähnt worden. Das Königreich Hannover wird zwar auch von Preußen besetzt, aber dann mit einem interessanten Modell einer weitgehenden regionalen Mitbestimmung sowie dafür bereit gestellter großer finanzieller Mittel für das Einrichten im preußischen Gesamtstaat gewonnen.
So kennzeichnet die Integrationspolitik des preußischen Staates gegenüber seinen neu einverleibten Territorien des 19. Jahrhunderts eine erstaunliche Differenziertheit der Vorgehensweise. Es werden je nach den regionalen Erfordernissen unterschiedliche Modelle der staatlichen Integration angewandt, die wesentlich zum Erfolg des Einbaus der neuen Gebiete in des Gesamtverband der Monarchie beitragen, wenn sie auch durchaus zwischen staatlicher Gewalt, Anpassung und positiver Integration schwanken. Allen Gebieten gemeinsam ist die Einbeziehung der neu gewonnen Provinz in den allgemeinen Verwaltungsaufbau des preußischen Staates nach 1815, der schon für sich eine integrative Wirkung erreicht. So erfolgt für alle hinzu gewonnenen Gebiete eine systematische Integration in den gesamtstaatlichen und auf allen Ebenen identischen Behördenaufbau, der für alle zehn Provinzen und 25 Regierungsbezirke (1815) mit Kreis-, Regierungs- und Provinzebene und den entsprechenden Einrichtungen in den Bereichen Kirche, Militär, Gerichtswesen usw. die gleiche Verwaltungsstruktur bietet.
Zu den positiven Seiten der preußischen Integrationspolitik der neu gewonnen Gebiete gehören verfassungsrechtliche Maßnahmen, die die regionalen Befugnisse auf der Provinzebene stärken und für die neuen Territorien gegenüber dem Zustand vor der preußischen Okkupation durchaus einen Fortschritt darstellen können. So erhält Schleswig-Holstein beispielsweise 1869 die modernste Städteordnung der gesamten Monarchie. Im Kaiserreich werden in Preußen weitere Teilzugeständnisse an den Regionalismus durchgesetzt, etwa in den Dezentralisierungen mit den neuen Kreis- und Provinzialordnungen der 1870er Jahre. Insgesamt profitieren die neuen Provinzen von der effektiven Verwaltung sowie der relativen Autonomie, die diese Gebiete in Preußen genießen.
Gleichzeit allerdings ist die preußische Integrationspolitik gegenüber den neuen Provinzen im Kaiserreich in bezug auf die Minderheiten im Osten und Nordwesten der Monarchie durch ein eklatantes Versagen gekennzeichnet.
Durch die v.a. seit den 1880er Jahren propagierte und in der verwaltungstechnischen Alltagspraxis durchgeführte Diskriminierungs- und Germanisierungspolitik gegenüber der polnischen Minderheit im Osten Preußens sowie der dänischsprachigen Minderheit in Schleswig-Holstein schafft sich der Staat selbst neue Konfliktherde und Spannungsfelder und stärkt selbst den Widerstand der Bevölkerung in den betroffenen Gebieten. So verstärken sich im frühen 19. Jahrhundert mit der Westverschiebung des Staates und seinen politisch-emanzipatorischen wie konfessionellen Verwicklungen sowie dem vom Staat selbst verschärften Minderheitenproblem im Osten im späten 19. Jahrhundert für Preußen insgesamt die inneren Spannungen und der Staat wird bei aller äußeren Geschlossenheit insgesamt krisenanfälliger. Die Umstände der Integration bestimmen dabei auch zumeist das Ausmaß der Opposition bzw. die Fortdauer der preußisch-antipreußischen Traditionen in den hinzu gewonnen Gebieten. So erhalten sich die größten Oppositionsgruppen gegen die preußische Einverleibung in den katholischen Gebieten des Rheinlandes, im überwältigten und gedemütigten Frankfurt, in den in welfischen Traditionen verharrenden Kreisen Hannovers sowie teilweise auch in Schleswig-Holstein.
Dabei ist die Reaktion der verschiedenen Kräfte der Gesellschaft der einverleibten Gebiete selbstverständlich nicht zuletzt von der sozialen Stellung sowie den damit in Verbindung stehenden Interessen abhängig. Am ehesten zum Wehklagen gestimmt sind die jeweiligen Herrscher der einverleibten Gebiete wie etwa die Welfen in Hannover, die 1866 abgesetzt werden und in das Exil nach Paris gehen. Ganz unterschiedlich sind die Reaktionen des Adels, je nachdem, ob er von der preußischen Oberherrschaft profitiert oder nicht. Dort, wo Preußen die Adelsvorrechte wiederherstellt, wie etwa in Schleswig-Holstein oder in Ostfriesland, wird der Adel schnell zum Stabilisator des neuen Regimes. In Sachsen oder Hannover dagegen sieht sich der Adel als Wahrer von Tradition und Legitimität und Preußen erscheint darüber hinaus sogar noch als zu fortschrittlich eingestellt, so dass hier eher Ablehnung vorherrscht.
Den größten Vorteil aus dem Anschluss an Preußen zog das wirtschaftlich aktive Bürgertum, das von dem großen einheitlichen Zollgebiet unter Preußens Führung sowie dem bald einsetzenden wirtschaftlichen Aufschwung am meisten profitiert. Die breite Bevölkerung stöhnt zwar zuweilen unter den neuen Steuern oder der drakonisch durchgesetzten Wehrpflicht, doch arrangieren sie sich zumeist insgesamt bald mit den neuen Herrschern. Freilich empfinden sie sich auch eher als Rheinländer oder Westfalen und erst in zweiter Linie als Preußen.
Insgesamt stellt sich die Geschichte Preußens, die zu wesentlichen Teilen auch eine Geschichte der territorialen Expansion ist, als ein Erfolgsmodell dar, das nicht allein von Unterdrückung und Gewalt, sondern von einem durchaus differenzierten Umgang mit den hinzu gewonnen Gebieten geprägt ist.
Die gigantischen Gebietsausweitungen Preußens, die im 17. und 18. Jahrhundert beinahe eine Verachtfachung des Territoriums ausmachen und im 19. Jahrhundert noch einmal einen Zuwachs von immerhin einem Sechstel bedeuten, so dass sich das preußische Staatsgebiet zwischen dem Beginn des 17. Jahrhunderts und 1866 insgesamt verneunfacht, stellen an den Staat eine schwierige Integrationsaufgabe.
Dabei überwölbt Preußen mit seinen institutionellen Klammern der Verwaltung, des Militärs und der Krone sowie mit personellen Verbindungen aus Verwaltung einschließlich des Königs die neuen Gebiete und drängt ihnen die politische Kultur des deutschen Hegemonialstaates auf. Gleichzeitig prägen die neu hinzu gewonnenen Gebiete Preußen aber auch selbst wieder. Dies gilt insbesondere für das zivilisatorisch wohl teilweise schon auf einem höheren Niveau befindliche Rheinland, das die gesamte Ausrichtung Preußens verändert, starke wirtschaftliche Impulse an den Gesamtstaat aussendet und die preußische Politik mit einer Vielzahl vor allem liberaler Politiker wie Ludolf Camphausen oder David Hansemann bereichert. Diese Befruchtung Preußens durch seine neu hinzu gewonnenen Provinzen gilt aber durchaus auch für andere Gebiete, etwa für Hannover, das mit Rudolf Bennigsen einen für die Geschichte des Parlamentarismus des frühen Kaiserreiches wichtigen Politiker nach Berlin schickt.
Dennoch versucht der preußische Staat, die jeweiligen neuen Provinzen nach und nach einer größeren Zentralisierung zu unterwerfen und wendet dabei auch Mittel des politischen Drucks an, gegen den sich die betroffenen Gebiete wehren. So präsentiert sich Preußen schließlich im 19. Jahrhundert als ein nach außen geschlossener und im Innern scheinbar funktionierender Machtstaat, der aber dennoch eher einen „differenzierten Einheitsstaat“ (Schütz) darstellt. Er ist aufgrund seiner riesigen Expansions-, die mit einer ebenso gewaltigen Integrationsentwicklung verbunden ist, gleichzeitig auch von vielen regionalen Spannungsmomenten und Unausgeglichenheit gekennzeichnet, die sich in Krisensituationen wie 1919 in heftigen Separatismusbewegungen entladen können.
Insgesamt verliert die Zugehörigkeit zu Preußen aber mit der Entstehung des Deutschen Kaiserreiches 1871 für die Bevölkerung an Bedeutung. Wichtiger wird nun, gerade im Zeichen des heraufziehenden Nationalismus, die Zugehörigkeit zum Deutschen Reich.