1. Januar 1900: Berlin begrüßt das neue Jahrhundert
“Noch steht die letzte Nacht des Jahres 1899 vor meiner Seele, in die durch den Anbruch des neuen Jahrhunderts für mich etwas Seltsam-Geheimnisvolles verwoben schien. Ist doch der Mensch von jeher geneigt, sich durch Magie der Zahl zu Gedanken von besonderem Sinn und Gewicht bewegen zu lassen, und alles was an dunkler Schicksalsschwere in dem Wort Jahrhundertwende mitschwingt, ergriff von mir Besitz. Ich lag auf meinem Krankenlager, in kummervolles Sinnen vergraben, und als die Glocken der Matthäikirche den Beginn des Jahres ankündigten, drang schriller Lärm von Böllern, heiteren Glückwunschrufen und allerhand anderen Geräuschen von der sonst so stillen Tiergartenstrasse und aus benachbarten Häusern zu mir, der im krassen Widerspruch zu meiner feierlichen Stimmung stand. Niemals soll eine Silvesternacht in Berlin ausgelassener und zügelloser begangen worden sein.“
So erinnert sich der Kunsthistoriker Werner Weisbach an die Jahrhundertwende im preußisch-deutschen Kaiserreich.
In der Silvesternacht wird die Jahrhundertwende von zahlreichen, festlich gekleideten Berlinern auf den Straßen zwischen dem Brandenburger Tor dem Schloss und dem Roten Rathaus gefeiert. Am Neujahrsmorgen werden die Truppenfahnen und Standarten des Gardekorps neu geweiht. Ein evangelischer Feldprediger spricht die Weiherede, Kaiser Wilhelm II. ist unter den Anwesenden:
„In Schwert und Schild unter dem Kruzifix, das soll unsere gute Wehr und Waffen bleiben, und des Schildes Inschrift die große Parole auch für das neue Jahrhundert: Zu Schirm und Schutz / Zu Tat und Trutz / Zu Sieg im Streit / Von Gott geweiht.“
Der Kaiser zu den Anwesenden über das neue Jahrhundert:
„Der erste Tag des neuen Jahrhunderts sieht Unsere Armee, d.h. Unser Volk in Waffen, um seine Feldzeichen geschart, vor dem Herrn der Heerscharen knien. Ein Blick auf unsere Fahnen, sie verkörpern unsere Geschichte ... Und wie mein Großvater für sein Landheer, so verde auch ich für meine Marine unbeirrt in gleicher Weise das Werk der Reorganisation fort- und durchführen, damit durch sie das Deutsche Reich auch im Ausland in der Lage sei, den noch nicht erreichten Platz zu erringen.“
In der „ Berliner Illustrierte Zeitung“ ist eine „Bilanz des Jahrhunderts“ zusammengestellt .
Die Zeitschrift hat ihren Lesern Fragen nach dem nun vergangenen Jahrhundert gestellt.
Die Antworten der Leser zu den Jahrhundertfragen können als Spiegel der wilhelminischen Gesellschaft angesehen werden:
1. Welchen Beinamen würden Sie diesem Jahrhundert geben?
Die am meisten gegebene Antwort lautet „Das Jahrhundert der Erfindungen“. Häufig werden auch Beinamen wie das eiserne, das große, das kriegerische, das patriotische und das Jahrhundert Bismarcks erwähnt.
2. Wen halten Sie für den bedeutendsten deutschen Mann in diesem Jahrhundert?
4800 Stimmen, die übergroße Mehrheit erhält Fürst Otto von Bismarck. Kaiser Wilhelm I. folgt auf Platz zwei mit 700 Stimmen, (der amtierende Kaiser Wilhelm II. wird nur vereinzelt genannt)
3. Wer ist der größte Denker des Jahrhunderts?
Spitzenreiter ist Feldmarschall Graf Helmuth von Moltke, vor Immanuel Kant, Charles Darwin und Arthur Schopenhauer.
In der Zeitschrift „Die Jugend“ erscheint in der Rubrik „Das lyrische Tagebuch des Leutnants von Versewitz“ zum neuen Jahrhundert das Gedicht
Alles in Allem: Nicht hoffnungslos!
Wünschen von mir, äußre mich
Ueber neues Jahrhundert?
Wunsch ja berechtigt, sicherlich,
Zeitpunkt nur mich verwundert.
Weiß nich, weshalb schon dieses Jahr
Kopf mit Betrachtung zerquälen?
1900 doch offenbar
Altem Jahrhundert zu zählen?
Jlaube auch nich, dass Publikum
Ansicht sehr einjenommen:
Wünscht eben nur um Jahrhundert herum
Schnellstens ins neue zu kommen!
Hofft davon alles mögliche Heil,
Jänzlich Wandlung auf Erden!
Nich meine Meinung. Jejentheil!
Jar nich viel anders werden!
Jlaube auch nicht, das Krieg in Sicht.
Halte das – leider! – für Märchen:
Jallier Buckel zu voll jekricht-
Reicht noch für etzliche Jährchen!
Alles in Allem – nich hoffnungslos
Zukunft entjejenschauen
Festhalten an Parole blos:
Jugend, Armee un – Frauen!