21. Oktober 1878 Neuer Reichstag beschließt Sozialistengesetz
Der Klempnergeselle Max Hödel schießt in Berlin auf Kaiser Wilhelm I., ohne ihn zu treffen. Der Attentäter ist ein geistig und körperlich kranker Mensch, der einmal einem sozialdemokratischen Verein angehört hat, aber nach kurzer Zeit ausgeschlossen worden war. Nach dem Attentat fordert Otto von Bismarck sofort ein Ausnahmegesetz gegen die Sozialdemokratie. Bereits am 17. Mai wird dem Bundesrat ein Gesetzentwurf vorgelegt, dem dieser zustimmt. Dieser erste Gesetzentwurf erhält im Reichstag jedoch keine Mehrheit.
Am 2. Juni 1878 wird zum zweiten Mal auf den Kaiser geschossen. Karl Eduard Nobiling verwundet „ Unter den Linden“ in Berlin mit einem Schuss Wilhelm I. schwer. Er selbst erliegt einige Zeit später einem Selbstmordversuch. Später wird behauptet, Nobiling habe noch gestanden, sozialistischen Tendenzen zu huldigen und sozialdemokratische Versammlungen besucht zu haben. Nach diesem Attentat beginnt in ganz Deutschland, besonders in Preußen, eine umfangreiche Verfolgung sozialdemokratischer und gewerkschaftlicher Aktivitäten.
Am 21. Oktober 1878 beschließt der Reichstag mit 221 zu 149 Stimmen das “Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“. Es verbietet alle „sozialdemokratischen, sozialistischen oder kommunistischen“ Vereine Versammlungen und Druckschriften, ermöglicht die Ausweisung und Verhaftung von Führern der neuen Partei und erlaubt die Ausrufung des “kleinen Belagerungszustandes“ durch die Polizeipräsidenten in den Provinzen.
In Berlin hagelt es sogleich zahlreiche Verbote. Am 28. November 1878 wird zur “Aufrechterhaltung der Ordnung“ in der Hauptstadt der kleine Belagerungszustand ausgerufen. Eine öffentliche Parteiarbeit ist nun unmöglich geworden, die sozialdemokratischen Parteiführer und Funktionäre sind polizeilicher Bespitzelung und Verfolgung ausgesetzt, viele sehen sich gezwungen, in den Untergrund zu gehen oder zu emigrieren. Im Laufe der Zeit werden 892 Sozialdemokraten aus Preußen verwiesen.
In Berlin verabschieden sich die Ausgewiesenen mit einem eilig gedruckten und verteilten Flugblatt von ihren Genossen, denen sie dringend davon abraten, sich vom Gegner zu ungesetzlichen Handlungen provozieren zu lassen. Das Flugblatt schließt mit den Worten:
„Laßt unsre Feinde toben und verleumden, schenkt ihnen keine Beachtung!... Haltet fest an der Losung, die wir Euch so oft zugerufen: An unserer Gesetzlichkeit müssen unsre Feinde zu Grunde gehen. Und nun noch ein Wort, Freunde und Genossen! Die Ausweisung hat bis jetzt, mit Ausnahme eines einzigen, nur Familienväter getroffen. Keiner von uns vermag seinen Angehörigen mehr als den Unterhalt der nächsten Tage zurückzulassen. Genossen! Gedenkt unsrer Weiber und Kinder! Bleibet ruhig! Es lebe das Proletariat! Es lebe die Sozialdemokratie!“
Den preußischen Behörden erscheinen sogar sozialdemokratische Gesangsvereine verdächtig, als eine der ersten Vereinigungen in der Provinz Brandenburg wird der Männergesangsverein „Liberté“ in Luckenwalde verboten. Nicht selten erfolgen die Verbote und Ausweisungen aufgrund von Denunziationen aus der Bevölkerung. Eifrige Untertanen melden den Behörden „sozialdemokratische Umtriebe“ und verdächtigen politisch aktive Arbeiter und Gewerkschafter „umstürzlerischer Bestrebungen“. Sozialdemokraten gelten als „ vaterlandslose Gesellen“, denen nur mit Schlagstock und Zuchthaus beizukommen sei.
Reichskanzler Otto von Bismarcks Versuch, mit diesem zunächst zweieinhalb Jahre gültigen, später bis 1890 verlängerten Ausnahmegesetz die noch junge Sozialistische Arbeiterpartei zu zerschlagen, scheitert. Illegalität und Verfolgung führen im Gegenteil zu Solidarisierungen in der Arbeiterschaft und zu einer Forcierung der Parteiarbeit, woraus die Sozialdemokratie sogar erstarkt hervorgehen kann. Auch bleibt das Gesetz von Anfang an flügellahm, da die Abgeordneten der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion als Einzelpersonen ihre Mandate behalten und so weiterhin ihre politischen Interessen vertreten können.