Preußen und seine Nachbarn
Das Reich, regiert von der habsburgischen Dynastie, deren Herrscher Deutsche Könige und zugleich Römisch-Deutsche Kaiser waren, wurde im Gleichgewicht europäischer Staaten als Rechtsverband bis an die Wende zum 19. Jahrhundert geachtet. Ganz Mittel- und Osteuropa existierte noch in übernationalen Reichen: dem russischen, dem österreichischen, dem osmanischen Reich sowie in der national uneinheitlichen preußischen Monarchie. Blieb das Reich auch völkerrechtlich weiter bestehen, so brachten die Folgen des Dreißigjährigen Krieges 1618-1648 das Ende einer zusammenhängenden Reichsgeschichte.
Frankreich und Großbritannien waren seit dem 17. Jahrhundert zu bürgerlichen Nationen gewachsen. Das hatte erst Frankreich, dann Großbritannien den Führungsanspruch in Europa und der Welt garantiert. Die Wirtschaftskraft sowie die Handelsbeziehungen bildeten die Voraussetzung für ihre militärische Stärke. Im 17. Jahrhundert wurden auch die Grundlagen für die zukünftige preußische Großmacht gelegt. Sie sollte zwischen den starken Staaten wie Österreich-Spanien einerseits und Frankreich-Schweden anderseits eine wachsende Rolle spielen.
Im Dreißigjährigen Krieg war Brandenburg noch Aufmarschgebiet kaiserlicher Truppen sowie Dänemarks und Schwedens gewesen. Im Kampf zwischen Schweden und Polen um die Vormachtstellung an der Ostsee konnte 1656 der Kurfürst Friedrich Wilhelm (1640-1688) die Mark Brandenburg um das Herzogtum Preußen erweitern. Er errang damit die Souveränität Preußens. Im Mittelpunkt seiner außenpolitischen Interessen stand vorerst die Herrschaft über die mittlere Ostsee im Vordergrund. In den foldenden Jahrzehnten packtierte der Kurfürst daher in diplomatischen und militärischen Bündnissen vor allem gegen Schweden und das hegemoniale Frankreich.
1701 wurde Preußen Königreich. Damit war die Verpflichtung verbunden, das Reich gegen Frankreich im Spanischen Ertbefolgekrieg 1701-1714 zu unterstützen. Infolge des Ersten Nordischen Krieges (1700-1721) konnte Preußen im Friedensvertrag von Stockholm 1720 sein Gebiet um Vorpommern bis zur Peene erweitern. Schweden verlor damit seine Vormachtstellung in Nord- und Osteuropa an Russland. Der Einflussbreich Russlands rückte weiter nach Westen und nahm folglich neben Frankreich, Großbritannien, Österreich und nach dem Siebenjährigen Krieg 1746-1753 auch Preußen einen zunehmenden Einfluss auf die politische Kräftekonstellation in Europa.
Im Ergebnis des Siebenjährigen Krieges konnte Preußen seine Existenz gegen Österreich, Russland, Frankreich und Schweden verteidigen, sein Territorium um fast ein Drittel (Schlesien) vergrößern und neben Österreich zur zweiten deutschen Großmacht aufsteigen. Als Hegemonialmacht verlor Frankreich seine Position in Europa gegen Großbritannien. Im Kampf um die Vormachstellung in Deutschland wurde der Dualismus Österreich – Preußen begründet. Der Großmachtanspruch Preußens führte in Abstimmung mit Österreich und Russland zur dreimaligen Teilung Polens (1772/1773/1795), das als Staat ausgelöscht wurde. Mit dem neu hinzugekommenen Territorium Westpreußen erweiterte Preußen durch den Zusammenschluss mit Ostpreußen seinen Herrschaftsbereich im nordöstlichen Europa. Aber auch die russische Grenze verschob sich Richtung Preußen.
Nach 1789 und 1806 zeigte sich jedoch, dass Preußen noch nicht stark genug war, um seinen Großmachtanspruch durchzusetzen. Frankreichs Außenpolitik diente der Sicherung der Revolutionsergebnisse und der Schaffung eines entsprechenden Umfeldes. 1806 traten 16 süd- und westdeutsche Fürsten aus dem Reich aus und gründeten in Paris unter Napoleons (1799-1814) Protektorat den Rheinbund (1806-1813). Das bedeutete das formale Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Preußen hatte keine Verbündeten mehr und verlor gegen Frankreich bei Jena und Auerstedt. Das brachte den staatlichen Zusammenbruch und die Degradierung zur Mittelmacht. Auch Österreich brachten die Kriegshandlungen gegen Frankreich 1809 den Verlust der Großmachtrolle. Damit war Europa in Einflusssphären zwischen Frankreich und Russland geteilt.
Der spätabsolutistische Staat in Preußen verlangte nach bürgerlichen Reformen. Diese wurden nach 1807 allmählich eingeführt und bildeten eine wesentliche Grundlage für den erfolgreichen Verlauf der Befreiungskriege 1813/1815 gegen das napoleonische Frankreich. Auf dem Wiener Kongress wurden die vornapoleonischen Zustände wiederhergestellt, was außenpolitisch bedeutete, dass England, Frankreich, Russland, Österreich und Preußen wieder als fünf europäische Großmächte auftraten. Preußen konnte sein Einflussgebiet Richtung Westen verlagern. Der Landgewinn umfasste hauptsächlich die spätere wirtschaftlich starke Rheinprovinz, Westfalen, Schwedisch-Pommern mit Rügen und fast die Hälfte des Königreichs Sachsen.
Die territoriale Vormacht Preußens unter den deutschen Ländern beförderte sein außenpolitisches Auftreten zur Lösung der deutschen Frage. Auf der Basis preußischer Unionspolitik schloss es 1849 mit Sachsen und Hannover ein Dreikönigsbündnis zur Ausarbeitung einer deutschen Föderation. Dieser Union traten viele deutsche Staaten bei. Bayern betrieb eine antipreußische Politik und gründete 1850 das Vierkönigsbündnis mit Württemberg, Hannover und Sachsen. Der Versuch Bayerns, als dritte deutsche Macht ein Dreierdirektorat mit Österreich und Preußen in Deutschland zu gründen, scheiterte an ihrem Widerstand. Weitere deutsche Einigungsbemühungen blieben 1850 erfolglos, da sich die deutschen Großmächte weder im hessischen Verfassungskonflikt noch in der Schleswig-Holstein-Frage einigen konnten.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erreichte Preußen die wirtschaftspolitische Vormacht unter den deutschen Ländern (Deutscher Zollverein). Sein daraus folgender Anspruch auf territoriale Gebietserweiterung wurde von den Nachbarstaaten jedoch nicht kampflos hingenommen. Infolge des Krieges 1864 gegen Dänemark erhielten Österreich und Preußen die Herzogtümer Schleswig, Holstein und Lauenburg. Im Deutschen Krieg 1866, der zugleich österreich-italienischer Krieg war, kämpfte Preußen im Bund mit den kleineren norddeutschen Staaten (mit Preußen 18) gegen Österreich, Bayern, Württemberg, Sachsen, Hannover, Baden, Kurhessen, Hessen-Darmstadt, Nassau u.a. um die Vorherrschaft in Deutschland. Die militärische Entscheidung fiel für die vereinigten preußischen Armeen. Preußen verständigte sich zugleich mit Österreich als zukünftigen Bundesgenossen, um die Einmischung Frankreichs und Russlands auszuschließen. Die süddeutschen Staaten neutralisierten Preußen durch Friedensschlüsse. Hannover, Kurhessen, Nassau und Frankfurt am Main wurden annektiert. Sachsen behielt seine Integrität. 1866/1867 kam es zur Gründung des Norddeutschen Bundes unter Führung Preußens mit den Bündnispartnern von 1866, den annektierten Gebieten sowie Sachsen und dem nördlichen Hessen.
Die siegreichen militärischen Auseinandersetzungen gegen Dänemark (1864), Österreich (1866) und Frankreich (1870/1871) verdeutlichten den außenpolitischen Machtanspruch Preußens am Ende des Jahrhunderts. Seinen besonderen Ausdruck fand er in der Gründung des Deutschen Reiches 1871 unter Führung Preußens. Durch die Gründung des italienischen und deutschen Nationalstaats 1861/1866/1871 und der schwächeren Stellung Österreichs wurde das europäische Gleichgewicht gestört. Trotz innenpolitischer Probleme gelang es Otto von Bismarck (1862-1888) wesentlichen Einfluss auf wechselnde Bündnisse zu nehmen, um in den außenpolitischen Beziehungen einen Kräfteausgleich zwischen den alten und neuen Großmächten herzustellen.
Der von Deutschland im Ergebnis der industriewirtschaftlichen und politischen Entwicklung Ende des 19. Jahrhundert gestellte Führungsanspruch in der Weltpolitik rief in Europa den Konflikt nicht nur mit Frankreich und Großbritannien, sondern auch mit Russland hervor. Der Konflikt war nur militärisch lösbar, und der Kampf um die Einflusssphären in der Welt wurde auf europäischem Boden ausgetragen.
Deutschland kämpfte trotz seines Bündnisses mit Österreich und Italien im Ersten Weltkrieg (1914-1918) letzten Endes weitgehend allein gegen Frankreich, Großbritannien und Russland um die Neuaufteilung in der Welt. Der Krieg endete mit der Niederlage der Mittelmächte und dem militärischen Zusammenbruch Deutschlands. Der deutsche Hegemonie-Anspruch war übersteigert und damit der europäischen Kräftekonstellation nicht gewachsen. Der Erste Weltkrieg brachte das Ende der verbliebenen Kaiserreiche in Europa. Das monarchische Zeitalter mit Herrschern “von Gottes Gnaden“ hatte sich endgültig überlebt. Mit der Revolution 1917 in Russland und der Novemberrevolution 1918 in Deutschland waren jedoch neue potentielle Gegner sichtbar geworden. Preußen, das seit der Gründung des Kaiserreiches 1871 nicht mehr außenpolitisch selbständig handelte, existierte als Freistaat innerhalb des Reiches fort.