1875 Polnische Preußen im deutschen Kaiserreich
Im Königreich Preußen leben 1871/72 rund 2,5 Millionen Polen. Mit einem Bevölkerungsanteil von zehn Prozent bilden sie die größte Minderheit. Durch die Gründung des deutschen Reiches sind sie sozusagen über Nacht Bürger eines deutschen Nationalstaates geworden. Der neuen, eigentlich „unpreußischen“ nationalen Begeisterung der Deutschen stehen die meisten Polen in Preußen mit Sorge und Skepsis gegenüber, vor allem aber auch mit eigenem Patriotismus und dem Streben nach nationaler Selbstständigkeit.
Im Jahr der Reichsgründung bringt ein polnischer Reichstagsabgeordneter, der Rittergutsbesitzer Kantak, die Stimmung in der polnischen Minderheit auf den Punkt. Die deutschen Abgeordneten seien im Begriff, “das gerechte Werk nationaler Einigung . . . mit einem Unrecht einem anderen Volksstamm, einer anderen Ihnen auf diesem Felde gleich berechtigten Nationalität gegenüber“ zu beginnen. Polnische Politiker sprechen in dieser Zeit wiederholt aus, dass sie die Gründung eines deutschen Nationalstaates zwar begrüßten, aber für die eigene Nation das gleiche Recht in Anspruch nähmen. “Wir wollen, meine Herren, bis Gott anders über uns bestimmt, unter preußischer Herrschaft bleiben; aber dem deutschen Reich wollen wir nicht einverleibt sein!“, heißt es in den Debatten.
Da die preußische Regierung immer deutlicher nationale Töne anschlägt und insbesondere auf die Verbreitung der deutschen und die Beschränkung der polnischen Sprache drängt, kommt es immer häufiger dazu, dass die polnischen Untertanen des Königs von den deutschen Behörden diskriminiert werden. 1876 wird Deutsch zur alleinigen Amtssprache in Preußen erklärt, die polnische Sprache durch Zwangsmaßnahmen immer weiter zurückgedrängt.
Die Germanisierungspolitik der preußischen Regierung gipfelt 1885 zunächst in dem Beschluss, mehr als 30.000 Polen, die in den Jahrzehnten zuvor zugewandert sind, unter ihnen auch viele Juden, aus Preußen auszuweisen. Die Begründung: Die Betroffenen könnten die preußische Staatsbürgerschaft nicht eindeutig nachweisen. Das Vorgehen der „deutsch“ gesinnten Behörden hat nichts mehr mit dem preußischen Prinzip der Toleranz zu tun, das einst dafür Sorge trug, Menschen unterschiedlicher Völker und Religionen friedlich in einem Staat leben zu lassen. Den Opfern der staatlichen Vertreibungsaktion hilft es nicht, wenn sie nachweisen können, dass auch schon ihre Vorfahren auf dem von Preußen annektierten Territorium gelebt haben.