Preußen - eine multikulturelle Gesellschaft?
Der Dreißigjährige Krieg 1618-1648 hatte die Gebiete Brandenburgs stark verwüstet. Militärisch nicht gerüstet, war Brandenburg zum Aufmarschgebiet feindlicher Heere geworden. Die Einwohnerzahl war durch Epidemien, Kriegseinwirkungen und kriegsbedingte Abwanderung nahezu auf die Hälfte reduziert worden. Das veranlasste Friedrich Wilhelm, den Kurfürst (1640-1688), seit etwa 1650, eine planmäßige Einwanderungspolitik zu betreiben. Das Land musste wieder aufgebaut und wegen der teilweisen Entvölkerung neu besiedelt werden. Mit der Vermehrung der Bevölkerung sollte auch mehr Reichtum für das Land kommen. Verbesserung der Finanz- und Domänenverhältnisse, einheitliche und zweckmäßige Einrichtung der Verwaltung waren die notwendigen Vorbedingungen für eine planmäßige Wiederbesiedlung des Landes. Eine wirtschaftliche Belebung sollte auch seine Position als Landesfürst stärken und die Finanzierung seiner Gesamtpolitik sichern. Als erste Siedler kamen bereits 1648 Holländer für den Garten-, Landschafts- und Kanalbau. Durch sie belebte sich das Handwerk.
Bereits 1661, 1667 und 1669 wurden erste Einwanderungsedikte erlassen, um Bürger als Kolonisten und Handwerker ins Land zu holen. Sie erhielten u. a. mehrjährige Befreiung von Abgaben und Steuern, unentgeltliche Zuweisung von Bauplätzen und Bauholz sowie Befreiung von Einquartierung. Des weiteren wurden Handelsmonopole und Schutzzölle eingeräumt. So waren 1685, bei der Vertreibung der Hugenotten, der französischen Protestanten aus Frankreich infolge der Aufhebung des Ediktes von Nantes (1598), bereits günstige Vorbereitungen getroffen, um sie als Kolonisten anzuwerben. Das sogenannte " Edikt von Potsdam" regelte die Bedingungen der Aufnahme in Brandenburg.
Die Hugenotten gehörten zu den gebildeten, wirtschaftlich erfolgreichen und wohlhabenden Bevölkerungsschichten. Von den ungefähr 200.000 Vertriebenen kamen etwa 20.000 ins brandenburg-preußische Land. Es kamen zwar nicht überwiegend die mit reichen Gütern ausgestatteten Franzosen, doch diejenigen, die kamen, waren gewillt, sich eine wirtschaftlich sichere Existenz aufzubauen. Neben ihren handwerklichen und wissenschaftlichen Fertigkeiten und Fähigkeiten brachten die Einwanderer auch ihre Sitten und Gebräuche mit. Vielerorts entstanden eigene Französische Kolonien mit Kirchen, Schulen, Gerichten, Krankenhäusern und Armenanstalten. Die Hugenotten führten ungefähr 40 neue Berufszweige ein, gründeten die ersten Manufakturen vor allem zur Versorgung des Heeres mit Waffen und Uniformen und verbesserten das Warenangebot. Sie erhielten auch Zugang zu höheren Positionen in Verwaltung und Militär, so dass sich der einheimische lutherische Adel zurückgesetzt fühlte. Die Hugenotten mussten sich aber auch weitreichenden Reglementierungen fügen. Sie waren gezwungen, sich den Maßnahmen und Zielen der königlichen Wirtschaftspolitik unterzuordnen. Sie fanden ihren Platz in der Gesellschaft und entwickelten sich zu einer staatstragenden Schicht in Preußen. Anfang des 18. Jahrhunderts kamen weitere Hugenotten, die sich zunächst in der Pfalz niedergelassen hatten.
Die Wiedereinwanderung der Juden im 17. Jahrhundert verlief sehr viel erschwerter. Im 16. Jahrhundert waren sie vertrieben worden. Das Edikt von 1671 erteilte einem Teil von ihnen eine zeitweiliges Niederlassungserlaubnis in Brandenburg-Preußen. 50 Familien reicher Juden, die kurz zuvor aus Wien vertrieben worden waren, erhielten gegen jährliche Schutzgelder eine zeitlich begrenzte Aufenthaltsgenehmigung. Besonders willkommen waren die wohlhabenden Juden, die seit Jahrhunderten aus dem ihnen zugewiesenen Geld- und Warenhandel profitierten. Auch die jüdische Gemeinde selbst bevorzugte die Aufnahme finanzkräftiger Mitglieder, da sie für verschuldete jüdische Bürger haftbar gemacht wurde.
Die Juden unterlagen Sondergesetzen, Abgabenforderungen und Einschränkungen ihrer beruflichen Möglichkeiten. Ihnen war vor allem der Handel mit Waren und Geld am Wohnort und auf den Märkten gestattet. Der preußische Staat profitierte durch die damit verbundene Belebung der Messen vor allem in Frankfurt an der Oder und des Handels mit Polen. Kam es bei anderen Siedlern auf die Dauer zu einem Zusammenwachsen mit der einheimischen Bevölkerung, so blieb doch der Sonderstatus der Juden durch staatliche Gesetzgebung erhalten. Um 1800 zählte man trotzdem ungefähr 8000 Juden in Preußen. Sie waren zu wichtigen Steuerzahlern des Staates geworden, deren Zahlungskraft von der preußischen Bürokratie juristisch fixiert und ausgenutzt wurde. Nur ein kleiner Teil der wirtschaftlich erfolgreichen und gelehrten Oberschicht fand allmählich einen gesellschaftlichen Kontakt und begann sich in den deutschen Sprach- und Kulturkreis einzuleben. Im Zuge der in Gang gesetzten preußischen Reformen erhielten die Juden 1812 durch das Emanzipationsedikt ihre Gleichstellung als Untertanen des Staates. Das entsprach dem Bedürfnis ihrer überwiegenden Mehrheit, einen festen Platz in der Gesellschaft zu finden. Seine Umsetzung sollte von langer Dauer sein, weil sie nicht bei allen im Prozess der Nationwerdung willkommen waren.
Nach Krönung Friedrich I. 1701 zum König in Preußen setzte eine erneute Kolonisierungswelle ein: Preußisch-litauische Bauern, französische Schweizer, Nassauer, Pfälzer, Süddeutsche, Magdeburger und Halberstädter kamen ins Land. 1732 nutzte Friedrich Wilhelm I., die Vertreibung der im Erzbistum Salzburg lebenden Protestanten, welche sich nicht wieder dem katholischen Glauben unterwerfen wollten, und lud sie nach Ostpreußen ein. Mit zahlreichen Unterstützungen und vielfachen Begünstigungen siedelte er rund 20 000 Österreicher in Ostpreußen an. Die meisten von ihnen bekamen Aufgaben auf königlichen Domänen oder siedelten auf brachliegenden, herrenlosen Landstrichen. 1732 baten auch böhmische Protestanten um Ansiedlungserlaubnis, da sie in Böhmen in ihrer Glaubensausübung behindert wurden. Die staatliche Genehmigung zur Niederlassung ermöglichte ihnen vor allem in den märkischen Ortschaften um Berlin eine neue Lebensgrundlage. Sie kamen aus Böhmen oder zum Teil von Sachsen oder der Obertlausitz, wo sie zuvor Zuflucht gefunden hatten. Aber erst 1735/36 gewährte man ihnen die finanzielle und materielle Unterstützung, die üblicherweise den Kolonisten gegeben wurde.
Das Zusammenwachsen der Einwanderer mit der einheimischen Bevölkerung verlief nicht reibungslos. Doch die, die den weiten Weg nach Ostpreußen gekommen, um sich ein neue Existenz aufzubauen, widerstanden den Hindernissen. Sprachschwierigkeiten, fremdartige Moden und unbekannte Traditionen verlangten nach gegenseitiger Toleranz. Diese konnte erst über einen längeren Zeitraum erreicht werden. Auch wirtschaftliche Gründe bedingten wiederholt eine ablehnende Haltung gegen neue Siedler. Die Einheimischen befürchteten Konkurrenz in Handel und Gewerbe.
Aber nicht nur Glaubensflüchtlinge und religiöse Minderheiten fanden Aufnahme in Preußen. Die Sicherung und Verteidigung der außenpolitischen Interessen forderten den zahlenmäßigen Ausbau der Armee und folglich ihre materielle Versorgung. Wirtschaftliche und politische Gesichtspunkte hinsichtlich der Erschließung des Landes, Gewerbeförderung und Steigerung des Steueraufkommens forderten die Ansiedlung weiterer Kolonisten. Die Bevölkerungsentwicklung war wichtiger Bestandteil der Politik im 17. und 18. Jahrhundert. Allein schon die Besiedlung von brachliegenden Ländereien mit Bauern und die Vermehrung der gewerblich tätigen Bevölkerung in den Städten und Dörfern war ein Gewinn und stärkte die Wirtschaftskraft des Landes.
Wiederholte landesherrliche Zusicherungen von Bekenntnisfreiheit und ungehinderter Religionsausübung bestätigten das im Lande schon seit 1613 verfügte Toleranzangebot. Die von oben verordnete gegenseitige Duldung resultierte aus dem absolutistischen Staatsinteresse Preußens und bewirkte durch ein politische und wirtschaftliche Integration sowie religiöses Nebeneinander verschiedener Bevölkerungsgruppen eine besondere Charakteristik bei der Nationwerdung.
Die Integration der Zuwanderer benötigte viel Zeit und Geduld. Die einheimische Bevölkerung war nur unter Druck und Zwang bereit die Neubürger zu dulden, die ihre Sitten und Gebräuche beibehielten und sich nur ganz allmählich assimilierten.