Wann begann, wann endete Preußen?
Die Geschichte des preußischen Staates ist abgeschlossen, und man sollte meinen, nichts sei einfacher, als den Anfang und das Ende dieses Staates zu bestimmen. Doch weit gefehlt. Sowohl für die Anfänge als auch für das Ende Preußens gibt es jeweils mehrere recht unterschiedliche Interpretationen, die je nach wissen-schaftlichem, politischem oder ideologischem Standpunkt eine gewisse Berechtigung haben.
Beschäftigen wir uns zunächst mit der Anfangsproblematik. Zahlreiche Historiker lassen die preußische Geschichte mit dem Ordensstaat des hohen Mittelalters beginnen. Sie sehen in dem Ordensland Preußen am Unterlauf der Weichsel nicht nur den Namengeber für das spätere Königreich Preußen. Ohne das Land der Pruzzen hätte es die Bezeichnung „Preußen“ nie erhalten. Nur von hier, also von außerhalb des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, war es möglich gewesen, ein neues Königtum gegen das römisch-deutsche Kaisertum zu gründen.
Doch steht dieses mittelalterliche Preußen in einem natürlichen, nicht konstruierten Kontinuitätszusammenhang mit dem neuzeitlichen Königreich Preußen? Und gibt es nicht einem Teilgebiet der späteren preußischen Monarchie ein Gewicht, das dieses so nie kontinuierlich gehabt hat? Fußt auf dieser Deutung nicht auch die Preußen-Ideologie, die in der preußischen Mission des Ostens eine der wichtigsten Aufgaben sieht? Die Geschichte Preußens erhält dadurch einen Akzent, den die polnischen Nachbarn zu Recht mit Argwohn betrachten.
Auch in der Übertragung der Herrschaft über die Mark Brandenburg an das Haus Hohenzollern und der damit verbundenen Kurfürstenwürde wird der Anfang Preußens vermutet. Damit wäre der preußische Staat eine Schöpfung der Hohenzollern. So hat es u.a. Bismarck in seinen Memoiren gesehen. Doch die Übertragung der Mark Brandenburg an die Hohenzollern ist nur ein wichtiges Datum in der brandenburgischen Geschichte und hat nur wenig Bedeutung für den späteren preußischen Staat, denn die Geschichte eines Territoriums wird nicht ausschließlich, auch nicht vornehmlich, in den Herrschaftsformen seiner Dynastie gespiegelt.
Ein weiterer denkbarer Anfang für die Geschichte Preußens fällt in die Regierungszeit des Kurfürsten Johann Sigismund zu Beginn des 17. Jahrhunderts: 1613 konvertiert das Herrscherhaus zum Calvinismus, 1614 erwirbt es die westlichen Gebiete Cleve, Mark und Ravensberg und 1618 schließlich erlangt es die Nachfolge im Herzogtum Preußen östlich der Weichsel. Die Konversion zum Calvinismus erleichterte den Weg zum Auf- und Ausbau der absoluten Monarchie und verband die Dynastie mit den damals politisch und wirtschaftlich vorbildlichen Niederlanden, wofür sich auch die Landbrücke im Westen als nützlich erwies. Die Nachfolge im Herzogtum Preußen schließlich bahnte den Hohenzollern den Weg zur Herrschaft im Ostseeraum. Das hat auch Friedrich II. klar erkannt, der in seinen „Denkwürdigkeiten zur Geschichte des Hauses Brandenburg“ feststellte: Die brandenburgi-sche Geschichte fängt erst mit Johann Sigismund an interessant zu werden, sowohl durch sei-ne Erwerbung Preußens als auch durch die Clevesche Erbfolge ... Erst von da an wächst der Inhalt an Fülle und gewährte auch mir die Mittel, mich entsprechend auszudehnen.“
Doch Friedrichs Interesse galt vorrangig der Erzeugung eines alle hohenzollernschen Territorien durchdringenden Staatsgefühls, das die Bevölkerung seiner weit verstreuten Territorien unter seiner Herrschaft verbinden sollte. Viel näher liegt es, in der Gestalt des Großen Kurfürsten den Beginn der eigentlichen Geschichte Preußens zu sehen, wie der unbestechliche Theodor Fontane bereits erkannt hat. In seinen Augen sind die Preußen ein Volk, „dessen Traditionen über den Tag von Fehrbellin kaum hinausreichen.“
Schließlich muss noch ein weiteres Datum angesprochen werden, das in der gegenwärtigen Beschäftigung mit Preußen von Bedeutung ist. In unserer Anlasskultur wird auf das Datum der Königskrönung von 1701 zurückgegriffen. Hier rückt der Name Preußen erstmals ins Zentrum der herrscherlichen Selbstbezeichnung und signalisiert einen übergreifenden Herrschaftsanspruch. Erstmals hat der Kurfürst von Brandenburg einen Titel, der über ein einzelnes Territorium hinausweist. Von nun an entwickeln sich auch Brandenburger und Rheinländer zu Preußen, am Ende der Regierungszeit Friedrichs des Großen jedenfalls ist dieses Ziel erreicht.
Doch bei dieser Argumentation bliebe – wie wir noch sehen werden – von der preußischen Geschichte nicht viel mehr übrig als das 18. und 19. Jahrhundert, und so wird man zumindest das 17. Jahrhundert noch einbeziehen müssen, in dem die Grundlage für den Aufstieg Preußens gelegt wurde. Ohne den Zerfall des Reiches und die im Westfälischen Frieden deutlich gewordene Erschöpfung der alten Kräfte in Mitteleuropa wäre der Aufstieg Brandenburg-Preußens zur neuen europäischen Großmacht gar nicht möglich gewesen.
Zeigen sich methodische Probleme größeren Umfangs bereits bei der Frage nach den Anfängen Preußens, so wird die Klärung seines Endes nicht einfacher. Vier Möglichkeiten sind in der Diskussion.
Als 1871 auf preußisches Betreiben ein neues deutsches Reich gegründet wurde, ist zwar der preußische Staat in dieses Reich integriert worden, ging aber nicht einfach in Deutschland auf. Die Frage war vielmehr, ob Deutschland „verpreußt“, oder ob Preußen „verreichlicht“ wurde. Vielen erschien das neue Deutsche Reich als ein erweitertes Großpreußen. Preußen nahm 65 Prozent des Reichsgebietes ein und stellte 60 Prozent der Reichsbevölkerung. Der preußische Ministerpräsident war meist zugleich Reichskanzler, doch die Entwicklung lief gegen Preußen. Mit der wirtschaftlichen Integration des Reiches und dem Prozess der Industrialisierung verschmolzen die Preußen mehr und mehr mit anderen deutschen Volksteilen und die neue Nationalbewegung ließ das Preußische hinter das Gesamtdeutsche zurücktreten.
Das Ende der Hohenzollern-Monarchie 1918 ist ein weiteres Enddatum in der Geschichte Preußens, das nun viele seiner institutionellen Prägungen verlor. Doch als Freistaat blieb es bestehen, zumal die Nationalversammlung 1919 Preußen als selbständiges Land bestätigte und sich damit gegen den Vorschlag des Staatsrechtlers Hugo Preuß wandte, der die preußischen Provinzen zu selbständigen politischen Einheiten erheben wollte. Für die Weimarer Demokratie erwies sich die Erhaltung Preußens als Freistaat innerhalb des Reiches als Glücksfall.
Nun, nach dem Ende der Monarchie, gewann Preußen ein neues politisches Gewicht durch seine stabilen Regierungen, die gegenüber den häufigen Regierungswechseln im Reich mehr politische Beständigkeit boten.Der „Preußenschlag“ des Reichskanzlers von Papen am 20. Juli 1932 setzte mit der Amtsenthebung der letzten demokratisch legitimierten Regierung auch Preußen ein Ende. Nun war der Weg zur Gleichschaltung des Landes Preußen frei. Aber bedeutet dies wirklich das Ende Preußens?
Auch im nationalsozialistischen Deutschland spielte Preußen noch eine Rolle. Hermann Göring als preußischer Innenminister und Ministerpräsident bediente sich des Verwaltungs- und Machtapparates, dessen Führungskräfte schnell ausgetauscht wurden. Darüber hinaus beriefen sich die Nationalsozialisten auf preußische Traditionen, die sie für sich in Anspruch nahmen und in ihrem Sinne weiterentwickelten und teilweise in ihr Gegenteil verbogen: der Tag von Potsdam ist dafür ein Beispiel.
Vor allem die nationalsozialistische Inanspruchnahme Preußens hatten die Alliierten im Visier, als ihr Kontrollrat am 25. Februar 1947 beschloss, den Staat Preußen formell aufzulösen. Sie machten Preußen verantwortlich für die Verbrechen in der jüngsten deutschen Geschichte. Diese Auffassung ist sicher anfechtbar, doch das Auflösungsdekret gilt. Daran allerdings muss die Frage geknüpft werden, ob am Tage des Kontrollratsbeschlusses 1947 Preußen nicht bereits faktisch aufgehört hatte zu existieren. Die „Federn“ des preußischen Adlers jedenfalls waren bereits „gerupft“, als der Alliierte Kontrollrat sein Todesurteil fällte.
So wissen wir zwar, wie Rudolf von Thadden feststellte, „dass Preußen tot ist und nur um den Preis der Leichenschändung wiederbelebt werden kann. Aber wir sind nicht in der Lage, sein Todesdatum zweifelsfrei anzugeben und seine Geschichte befriedigend zu terminieren.“