1832: Eine "Bild-Zeitung" aus Neuruppin
Mitte des 19. Jahrhunderts reicht der Blick der märkischen Bevölkerung auf dem flachen Land zumeist kaum über das Nachbardorf oder die Kreisstadt hinaus. Hinter dem Horizont beginnt eine fremde, nie gesehene Welt. Ein junger Druckereibesitzer aus Neuruppin erkennt, dass es ein lohnenswertes Unterfangen sein könnte, die Menschen mit Nachrichten und Geschichten aus aller Herren Länder zu versorgen. Im Betrieb, den sein Vater aufgebaut hat, beginnt der findige Unternehmer, bunte Bilderbögen zu drucken, die von den großen politischen Ereignissen genauso berichten, wie von dem Klatsch und Tratsch der alle Welt interessiert. An den Rand der Papierseiten, die Kolporteure, fliegende Händler und Lumpensammler für ein paar Pfennige das Stück in ganz Deutschland verteilen, lässt er folgende Worte drucken: „Zu haben bei Gustav Kühn, Neu-Ruppin“.
Die Bilderbögen Gustav Kühns sind die ersten Illustrierten Deutschlands, kleinbürgerliche Comics, die ein wenig der Information und der Bildung, vor allem aber der Unterhaltung dienen. Die colorierten Lithografien aus Neuruppin berichten von fernen Kriegsschauplätzen und häuslichen Alltagsproblemen, beschreiben Vulkanausbrüche und Staatsaffären, Schiffsuntergänge und Revolutionsgetümmel. Sie bilden eine barbusige, afrikanische Schönheit im Federrock genauso ab wie das „Goldene ABC für Jungfrauen“, in dem die Moralvorstellungen des Bürgertums mahnend postuliert werden:
„Die Unschuld ist die Eigenschaft, die mehr als Schönheit ziert, doch wird sie nie zurückgeschafft, von der, die sie verliert.“
Der aus Neuruppin stammende Schriftsteller Theodor Fontane schreibt den „Dreipfennigbögen“ eine weltumspannende, bildende Aufgabe zu: „Sie sind der dünne Faden, durch den weite Strecken unseres eigenen Landes, lithauische Dörfer und masurische Hütten, mit der Welt draußen zusammenhängen. Die letzten Jahrzehnte mit ihrem rasch entwickelten Zeitungswesen, mit ihrer ins Unglaubliche gesteigerten Kommunikation, haben daran freilich viel geändert, aber noch immer gibt es abgelegene Sumpf- und Heideplätze, die von Dehli und Kahnpur, von Magenta und Solferino nichts wissen würden, wenn nicht der Kühnsche Bilderbogen die Vermittlung übernehme... Was ist der Ruhm der Times gegen die zivilisatorische Aufgabe des Ruppiner Bilderbogens?“
Kühns bunte Blätter werden nach Skandinavien, England, Holland, Polen und Ungarn exportiert. 1832 beläuft sich die Jahresproduktion bereits auf mehr als eine Million Exemplare, einzelne Bögen, die wichtige Weltereignisse darstellen, werden in dem Neuruppiner Betrieb in Auflagen von mehr als 100.000 Stück gedruckt. Besonders in den Jahren 1870/71, in der Zeit des Krieges gegen Frankreich und der Gründung des Deutschen Reiches, läuft die Druckerei auf Hochtouren. Die Bildergeschichten vom Sieg über Frankreich werden in einer Auflage von drei Millionen Exemplaren unter das Volk gebracht. Von den ersten Anfängen 1791 unter Kühns Vater bis in die 30er Jahre des 20. Jahrhunderts werden rund 22.000 Motive in Holz geschnitten und in Lithostein geätzt.
Die neugierigen Betrachter, die sich die Bögen in den Glaskästen der Jahrmärkte anschauen oder Fahrensleuten abkaufen, stört es nicht, dass die feingezeichneten Darstellungen der Wirklichkeit nur annähernd entsprechen. Denn die Lithografen in der Kühnschen Druckerei und die schlecht bezahlten Frauen und Kinder, die jeden Bilderbogen per Hand bemalen, haben die Ereignisse und Gestalten, die sie abbilden, wie die Leser ihrer Geschichten, nie gesehen.