„Westfalczyks“ oder „Pollacken“: die polnische Minderheit in Preußen - zwischen Ausgrenzung und Integration
Polnische Wirtschaft, Polenmarkt, alles aufkaufende Polen – dies sind Stereotype, wie sie bis heute im Bewusstsein vieler Deutscher existieren und maßgeblich das deutsche Polenbild geprägt haben. Dass es sich dabei keineswegs um ein aktuelles Problem, sondern vielmehr um ein zwei Jahrhunderte überdauerndes Paradigma handelt, zeigt ein Blick in die Geschichte. Denn bereits seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert leben und arbeiten Polen in Deutschland, insbesondere im preußischen Staatsgebiet Ihre Geschichte soll hier kurz skizziert werden, wobei der Schwerpunkt auf den Ansiedlungsgebieten an Rhein und Ruhr sowie in Berlin liegen wird.
Der massenhafte Zuzug von Polen fällt zusammen mit der Phase des Übergangs des Deutschen Reiches vom Agrar- zum Industriestaat mit erheblichem Arbeitskräftebedarf auf der einen und hohem Bevölkerungsüberschuss durch die Agrarreform in den preußischen Ostprovinzen auf der anderen Seite. So setzt in den 80er und vor allem den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts eine Massenauswanderung aus den Ostprovinzen ein, die zum Teil nach Übersee führt und zum anderen in einer Ost-West-Wanderung in Berlin, Mitteldeutschland und dem Ruhrgebiet mündet, wo bis zum Ersten Weltkrieg ein Zuwachs von mehr als zwei Millionen Menschen aus dem Osten zu verzeichnen ist. Dabei sind gewisse Unterschiede in der Motivations- und Ansiedlungsstruktur von Polen an Ruhr und Spree zu unterscheiden.
Bereits seit den 70er Jahren herrscht in den Industriegebieten an Rhein und Ruhr ein erhöhter Arbeitskräftebedarf, vor allem durch die rasche Expansion des Steinkohlebergbaus. Da dieser schon bald nicht mehr aus dem näheren Umfeld befriedigt werden kann, müssen Arbeitskräfte aus anderen Regionen angeworben werden. Aus diesem Grunde werden professionelle Anwerber ausgesandt, die mit zum Teil recht zweifelhaften Methoden die Arbeitswilligen für sich zu gewinnen suchen: „Streng vertraulich! Wir bitten die Herren Gastwirte, dafür zu sorgen, daß möglichst viele Arbeiter unter 26 Jahren, möglichst unverheiratet, hierher ziehen. Für jeden aus Ihrer Ortschaft zuziehenden Arbeiter zahlen wir Ihnen Mk. 3.“ Und in einer anderen zeitgenössischen Beschreibung heißt es: „Bereits im Januar kommen die ‘Werber’ nach West- und Ostpreußen, nach Posen, Oberschlesien, um diese Arbeiter für die westlichen Provinzen, für Mecklenburg zum 1. März oder 1. April zu mieten. Zigarren, Bier und Schnaps werden von dem Werber unter die Arbeiter verteilt, jeder Angeworbene erhält 1 Mark Angeld, und nachdem die Mietsverträge abgeschlossen sind, wird ein gemeinsames Tanzvergnügen von dem Unternehmer veranstaltet.“
Angelockt durch solcherlei Verheißungen, besseren Wohnungs- und Lebensbedingungen gegenüber der ärmlichen Situation in den halbfeudalen Ostprovinzen, sind es in der Anfangsphase vor allem junge Männer, die sich auf den Weg nach Westen machen, um dort möglichst viel Geld zu verdienen und irgendwann in die Heimat zurückzukehren.
Diese Rückkehrabsicht ist nicht ohne Bedeutung für das entstehende „Ruhrpolenproblem“, denn der zeitlich befriste Aufenthalt verhindert eine Eingliederung in die Aufnahmegesellschaft sowie die Auseinandersetzung um gesellschaftlich relevante Positionen und Aufstiegschancen. Erst später steigt der Anteil von einwandernden Familien und vor allem von polnischen Frauen, die zu einem Wandel von der zeitweiligen Arbeitmigration zu einer dauerhaften Emigration beitragen.
Etwas anders gestaltet sich die Situation in der Großstadt Berlin. Im Gegensatz zur einseitigen Erwerbs- und Wohnstruktur im Ruhrgebiet liegt hier ein vielfältiges Angebot an Arbeitsplätzen vor, die häufig saisonal geprägt sind, aber auch zum langfristigen Verbleib einladen. Daneben sind es die Ausbildungsmöglichkeiten, vor allem an den technischen Hochschulen, die bildungshungrige junge Menschen aus den Provinzen Posen, Schlesien, Pommern sowie Ost- und Westpreußen anziehen. So stellt Berlin sowohl Fluchtpunkt als auch Zielort der Binnenauswanderung und Landflucht aus den dürftigen Lebens- und Arbeitsbedingungen der östlichen Provinzen dar. Seine Sogwirkung ist dabei vor allem auf die leichtere Möglichkeit, in Krisenzeiten den Arbeitsplatz zu wechseln, die erhöhte Mobilität und städtische Infrastruktur sowie nicht zuletzt das reichhaltige kulturelle Angebot der Stadt zu erklären. Auf diese Weise vollzieht sich die Assimilation der Zuwanderer aus dem Osten wesentlich rascher als im Ruhrgebiet, sie integrieren sich in das kulturelle Leben und übernehmen Lebens- und Arbeitsweisen der Hauptstadtbewohner. Daher verfügt die Mehrzahl der längerfristig Ansässigen auch schon bald über ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache, so daß vielmehr Klagen über die mangelnden Polnischkenntnisse der zweiten und dritten Generation von Einwandererkindern zu hören sind. „Wir wissen, wie verhängnisvolle und schädliche Ergebnisse die preußische Volksschule bei der polnischen Jugend zeitigt. Wir brauchen nur an die religiöse Erziehung der Jugend in einer fremden Sprache und daran zu denken, wie sie von der Zugehörigkeit zur polnischen Nationalität abwendig gemacht werden. [...] Die Lehrer flößen ihm Ekel zu allem Polnischen ein, und in vielen Fällen kommt es dahin, daß das Kind, von falschem Ehrgeiz verleitet und gleichzeitig schon in der Schule sehr empfindlich, seine Nationalität verachten lernt. Wenn die Jugend so vorbereitet die Schule verläßt, kann man sich nicht wundern, daß wir einen so großen Teil von ihr einbüßen.“ Diese Einschätzung ist im Jahre 1912 im „Dziennik Berlinski“ (Berliner Tageblatt), der wichtigsten Zeitung der polnischsprachigen Bewohner zu lesen, die als Informationsquelle dient, aber auch ein gewisses Zusammengehörigkeitsgefühl vermitteln soll.
Daneben sind es eine Vielzahl von Vereinen, polnischen Studentenvereinen, Industrieverbänden oder Frauenvereinen, die sich der Pflege der nationalen Sprache und Kultur verpflichtet fühlen. So sehen sich die Angehörigen der polnischen Minderheit in Berlin zumindest in gewisser Verbundenheit mit ihren Landsleuten, insbesondere durch das starke Band der katholischen Religion, doch ist insgesamt von einem sich verringernden Nationalbewusstsein und einer wachsenden Integrationsbereitschaft in die deutsche Gesellschaft zu sprechen.
Die polnischen Arbeiter an Rhein und Ruhr bleiben dagegen über lange Zeit von der deutschen Bevölkerung isoliert. Denn zumeist siedeln sie in betriebseigenen Wohnquartieren der Großzechen, wobei ländliche Gegenden bevorzugt werden. Neben den sich bietenden Vorzügen einer Zechenwohnung mit den Möglichkeiten zum Gartenbau und zur Viehhaltung sowie mit verhältnismäßig geringen Mietpreisen verhindert diese Art der Koloniebildung eine freie Orientierung auf dem Arbeitsmarkt und schränkt die sozialen Kontaktmöglichkeiten mit der einheimischen Bevölkerung erheblich ein. Zugleich entsteht auf diese Weise ein nicht geringes Maß an Abhängigkeit von den Besitzern der „Polenzechen“ und ruft die Gegnerschaft der deutschen Bergarbeiter hervor. Denn die ansässigen Arbeitskräfte befürchten eine Drückung der Löhne, die Verdrängung durch zuwandernde Polen und einen langfristigen Status- und Prestigeverlust, der auch tatsächlich eintritt. So werden die „Pollacken“ zu einer sozial nicht integrierten, zivilisatorisch gering geachteten und doch von hoher Leistungsbereitschaft geprägten Minderheit, die zum Objekt von Vorurteilen und Diskriminierung wird.
Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, daß die polnischen Zuwanderer rasch ein eigenes Vereins- und Organisationsleben bilden. Es werden kirchliche Gruppen, Theater-, Sport oder Lesevereine gegründet, aber auch die polnische Gewerkschaft ZZP und ein eigenständiges Zeitungswesen mit dem „Wiarus Polski“ als wichtigstes Organ. So ist am Vorabend des Ersten Weltkrieges ein feingliedriges polnisches Gemeinwesen zu betrachten, in dem die ehemaligen Landarbeiter und Bergleute aus dem preußischen Ostprovinzen das Bewusstsein einer eigenen ethnischen Minderheit im Deutschen Reich entwickelt haben. Dazu beigetragen hat sicherlich die Politik des deutschen Kaiserreiches gegenüber den als Reichsfeinden betrachteten Ruhrpolen. Seit dem Jahre 1871 betreibt die preußische Staatsregierung eine vehemente Germanisierungspolitik, von der neben anderen nationalen Minderheiten vor allem die im Reichsgebiet lebenden Polen betroffen sind.
So schränkt der sogenannte „Sprachen- und Maulkorbparagraph“ von 1908 die polnische Selbstorganisation mit dem Verbot der polnischen Sprache in öffentlichen Veranstaltungen erheblich ein und auch das Verbot von polnischem Sprachunterricht und die bewusste Beeinflussung der Schulpolitik dient diesem Ziel der Germanisierung der polnischen Minderheit. Während sich die polnische Minderheit in Berlin nur in geringem Maße von diesen staatlichen Eingriffe in ihrem Bewusstsein beeinträchtigt fühlt, ruft diese Politik bei zahlreichen Ruhrpolen eine Festigung des nationalen Bewusstsein und des Widerstandsgeistes hervor.
Diese Politik rächt sich zu Beginn des Ersten Weltkrieges. Denn im Gegensatz zum Gros der deutschen Bevölkerung löst der Kriegsbeginn bei der polnischen Minderheit keine Begeisterungsstürme aus. Selbst die im Verlauf des Krieges erfolgende Lockerung der restriktiven Polenpolitik, die für die notwendige Loyalität der Polen gegenüber dem Deutschen Reich sorgen soll, verfehlt ihre Wirkung. Vielmehr sind sie überzeugt von der baldigen Wiederherstellung des polnischen Staates und beteiligen sich daher auch nicht an den in Deutschland ausbrechenden revolutionären Unruhen, die nur „die Deutschen“ etwas angehen würden. Sie warten nun auf eine schnelle Rückkehr in ihre ehemalige Heimat.
Dieser Traum scheint sich zunächst zu erfüllen. Am 11. November 1918 wir die polnische Republik ausgerufen und schon bald machen sich zahlreiche Ruhrpolen auf den Weg in die vermeintliche Heimat. Hier werden sie jedoch schon bald mit der harten Realität konfrontiert. Die Wohn- und Lebensverhältnisse sind schlecht, die politischen Verhältnisse wirr und die Arbeitsmarktsituation hoffnungslos. Zudem werden die „Westfalczyks“ von den Polen häufig diskriminierend behandelt und keineswegs herzlich in ihre ehemalige Herkunftsgebiete aufgenommen. Aus diesem Grunde steigt rasch die Zahl der „Remigranten“, die nach Westfalen zurückkehren, und damit auch die Tendenz zur Assimilation. Die Hoffnung von der Rückkehr in die polnische Heimat scheint endgültig zerbrochen zu sein.
Von der preußischen Staatsregierung erfährt diese neue Haltung nur teilweise Unterstützung. Zwar ist man zum einen an den qualifizierten polnischen Arbeitskräften interessiert, doch liegt die Intention zugleich auf einer ethnischen Homogenisierung, die eine baldige Abwanderung der Ruhrpolen impliziert. Der Abstimmungskampf um Oberschlesien, polenfeindliche Ausschreitungen sowie die Abwanderung nach Frankreich infolge des Ruhrkampfes verschärft das Klima zwischen polnischer Minderheit und deutscher Regierung, so daß die Zahl der Ruhrpolen von 230.000 im Jahre 1923 auf 150.000 im Jahre 1929 sinkt. Die Zurückbleibenden sind nun zu einer verstärkten Assimilation gezwungen.
Eine solche vorschnelle Anpassung zu verhindern, setzt sich der 1922 in Berlin gegründete „Bund der Polen in Deutschland“ (Zwiazek Polakow w Niemczech) zum Ziel. Er versteht sich als Wahrer der Interessen der polnischen Minderheit in Deutschland in allen wichtigen gesellschaftlichen Feldern und bemüht sich darum, der polnischen Minderheit die in der Weimarer Verfassung festgeschriebene Gleichberechtigung aller Staatsbürger und ihre Anerkennung als nationale Minderheit zu erkämpfen. Doch auch wenn er als reichsweit operierender Dachverband zentrale Bedeutung für das polnische Organisationswesen erlangt, kann er doch nicht den allmählichen Rückgang des polnischen Vereinsleben verhindern. Neben den Erfahrungen von Verfolgung und direkten Repressalien spielen die Auswirkungen der Massenarbeitslosigkeit für den Rückgang der Vereinsarbeit eine entscheidende Rolle. So sind nicht nur Auflösungstendenzen der polnischen Ruhrgebietspresse zu konstatieren, sondern auch der Niedergang der polnischen Jugendbewegung, wobei sich innere Streitigkeiten ebenfalls negativ für den Zusammenhalt auswirken.
Mit dem Machtantritt Hitlers verändert sich die Situation der polnischen Minderheit grundsätzlich. Zwar wird ihnen eine Art von Sonderstatus zugestanden, doch werden ihre Vereine ebenfalls der „Gleichschaltung“ unterworfen und müssen sich immer wieder gegen massive Einmischungen lokaler Dienststellen zur Wehr setzen.
Zunehmende Hetze gegen Polen, Mißhandlungen und Übergriffe von faschistischen Schlägertrupps sowie das Verbot der Nationalsozialisten, Angehörige der polnischen Minderheit in die SS oder SA aufzunehmen, tun ihr übriges, um die polnische Selbstorganisation weitgehend einzuschränken und ihre Sprecher mundtot zu machen.
In der Zeit des Zweiten Weltkrieges werden die Organisationsstrukturen des polnischen Vereinslebens endgültig zerschlagen, ihre führenden Vertreter häufig verhaftet und ermordet.
Erst nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft setzt ein Neubeginn des polnischen Vereinswesens ein, mit neuen Konflikten und Problemfeldern.