1776 Der "Kinderfreund", das Unterrichtswerk für Landschulen von Friedrich Eberhard von Rochow erscheint zum ersten Mal
Als Friedrich Eberhard von Rochow 1760 von seinem Vater die Verwaltung der märkischen Familiengüter übernahm, war die Französische Revolution und der mit ihr verbreitete Gleichheitsgedanke noch weit entfernt. Mit der Frage: Was ist Aufklärung? hat sich der 26-jährige Rochow auf seine Weise beschäftigt, musste aber ohne Kants berühmt gewordene Antwort auskommen, denn die erschien erst 1784 in der Berlinischen Monatsschrift. 1792 übersetzte Rochow den 1789 verfassten, 1791 veröffentlichten "Diskurs über die Nationalerziehung" des Grafen Mirabeau ins Deutsche, mit dem er sich einig darüber war, dass eine Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse nur durch Erziehung und Bildung zu erreichen sei. Aber da bestand Rochows Modellschule in Reckahn schon 20 Jahre lang und war bereits über die Landesgrenzen hinaus so berühmt, dass Mirabeau das pädagogische Konzept in seinem Werk "De la Monarchie prussienne, sous Frédéric le Grand" (1788) positiv besprochen hatte. Rochow dankte ihm mit der kommentierten Übersetzung des "Diskurses". Er selbst hatte seine Reformschrift "Vom Nationalcharakter durch Volksschulen" 1779 veröffentlicht und bereits 1775 in der "Geschichte meiner Schulen" über seinen Modellversuch berichtet. Er war deshalb auch kein "Pestalozzi der Mark", als der er gelegentlich bezeichnet wird, denn der jüngere Schweizer Volkspädagoge konnte, als er 1781 zu publizieren begann und 1804 eine Erziehungseinrichtung mit Schule, Lehrerbildungsanstalt, Alterspension und Kinderheim gründete, auf das bereits populär gewordene, weit verbreitete und häufig nachgeahmte Gedankengut des preußischen Pioniers zurückgreifen.
Rochow, der sich spätestens seit 1763 mit dem Plan getragen hatte, die Erziehung und Ausbildung der ihm anvertrauten Landjugend zu übernehmen, tat damit zunächst einmal seine Pflicht als adliger Grundherr. Zwar bestimmte das preußische General-Landschulregiment von 1763, dass die Kinder als schulpflichtig zu betrachten seien, bis sie lesen können, "im Schreiben einen Anfang gemachet" und "im Christentum einen guten Grund belegt" haben, doch oblag es dem Grundherrn, diese staatlichen Vorgaben durchzusetzen. Das bescheidene Lernziel, bei dem die Fähigkeit des Rechnens nicht vorgesehen war, scheiterte jedoch schon an der Infrastruktur. In vielen Dörfern war die Bevölkerung zu arm für Schulbau, Lehererbesoldung und Schulgeld. Entweder gab es gar kein Schulhaus oder es fehlte der Lehrer. Gab es einen Lehrer, so war dieser unqualifiziert und schlecht bezahlt, meistens nebenbei oder vielmehr eigentlich Handwerker oder Küster. Überall wurde die Arbeitskraft der Kinder in der Land- und Hauswirtschaft gebraucht. Der Landbevölkerung fehlte die Einsicht von der Wichtigkeit einer Schulbildung, was man ihnen nicht zum Vorwurf machen konnte, denn tatsächlich lernten ihre Kinder dort nichts. Die Schule, sofern es überhaupt eine gab, vermittelte den Katechismus und einige Grundlagen der christlichen Glaubenslehre, was vor allem den Zweck hatte, die bestehende Ordnung als gottgewollt zu rechtfertigen, in der die Landbevölkerung keine Verbesserung ihrer Verhältnisse zu erwarten hatte. In der Schule ging es nur darum, den Eigenwillen der Kinder zu brechen und die frühzeitige Unterwerfung unter Autoritäten einzuüben. Diese Erziehungsaufgabe konnten die Eltern selbst besser erfüllen, es bedurfte dazu eines Lehrers und einer Schule sowie der damit verbundenen Unkosten eigentlich nicht.
Dass die Bauern, die "den zahlreichsten, aber verachtetsten Teil unserer Mitmenschen" ausmachten, mit und ohne Schule gleich dumm blieben, konnte Rochow in seiner Umgebung beobachten. "Ich lebe unter Landleuten. Mich jammerts des Volks", schrieb er. "Neben den Mühseligkeiten ihres Standes werden sie von der schweren Last ihrer Vorurteile bedrückt. Ihre Unwissenheit in den nötigsten Kenntnissen beraubt sie der Vorteile und Ersetzungen, welche die für alle Stände gnädigen Vorsehungen Gottes auch dem ihrigen gegönnt hat. Sie wissen weder das, was sie haben, gut zu nutzen, noch das, was sie nicht haben können, froh zu entbehren, Sie sind weder mit Gott noch mit der Obrigkeit zufrieden." Zum einen störte Rochow, dass die Bauern in ihren landwirtschaftlichen Methoden die ewigen Dilettanten blieben, weil sie sich nicht fortbildeten und an neuen Erkenntnissen schon aufgrund ihres Analphabetentums keinen Anteil hatten. "Gott! dachte ich, muß denn das so sein? kann der Landmann, diese eigentliche Stärke des Staats-Körpers, nicht auch verhältnismäßig gebildet und zu allem guten Werk geschickt gemacht werden? Wieviel tüchtige Menschen hätte z.B. ich in diesen Jahren nicht meinem Vaterlande gerettet, die jetzt ein Raub ihrer entsetzlichen Stupidität geworden sind!", schreibt Rochow 1775. Zum anderen beunruhigte ihn die mit der Unbildung einhergehende gesellschaftliche Verwahrlosung. Die Schule, in der bevorzugt mit Büchern religiösen Inhalts hantiert wurde, war nicht nur ein bildungsfeindlicher, sondern auch ein gottloser Ort. Die Religion der Landleute war "meistenteils der verderblichste Fatalismus", und es lag in Wahrheit die "ganze vortreffliche Sittenlehre Jesu Christi und seiner Apostel ganz außerhalb der Sphäre der Ausübung".
Mit einem Satz Mirabeaus: "Ohne Aufklärung gibt's keine Moral." Ein fehlender Gemeinsinn beeinträchtigte jedoch nicht nur die dörfliche Gemeinschaft, sondern auch den Zusammenhalt des Ständestaates. Von den unteren Schichten war eine Solidarität mit den Interessen der Gutsbesitzer nicht zu erwarten. Rochow zog daraus für sich die Konsequenz, dass der Adel in dieser Situation eine Vorleistung zu erbringen habe. Er übernahm deshalb nicht nur die Planung und Ausführung, sondern auch die Finanzierung des Schulprojekts, das den Bau und die Einrichtung der Schule, die Ausbildung und Besoldung der Lehrer, das Verfassen und Drucken der Schulbücher, das Ausarbeiten einer guten Schulordnung und die Konzeption geeigneter Unterrichtsmethoden umfasste. Den Standpunkt, dass der Grundherr für die Kosten aufzukommen habe, hat er immer wieder verteidigt: "Kostenfrei muß der Unterricht sein: a) auf dem platten Lande, wo wahre oder ohne harte Mittel nicht leicht erforschliche Armut den Besuch der Schulen zu allen Jahreszeiten hindert, b) wo die Eltern noch zu unwissend sind, um den Nutzen des ununterbrochenen Schulbesuchs für ihre Kinder zu begreifen, c) für den Staat, der durch gute Schulen bald seine Bürger beglücken will." Tatsächlich wollte Rochow "durch den besseren Unterrichte ein zukünftiges Geschlecht besserer Menschen" bilden, und sah die Schule als "Hilfeleistung dazu, daß an allen Gliedern der Gesellschaft die Erkenntnis der für sie nützlichen Wahrheit früh genug möglich werde, oder kürzer: die zureichende Anweisung zum gemeinnützigen Gebrauch aller Seelenkräfte".
In Reckahn haben die vielen zeitgenössischen Beobachter immer wieder die pädagogische Methode bewundert, dass der Unterricht nicht "Memorienkram, Herbeterei und Mechanismus" war, sondern gesprächsorientiert und immer das, was das Kind schon wusste, anerkannte und zur Grundlage des weiteren Fortgangs machte. Dass es darum ging, "die Kinder denken zu lehren" und der Lehrer auch mal eigenes Nichtwissen eingestand, wie ein Besucher begeistert notierte. Dass der Grundherr zum Teil selbst den Rechenunterricht erteilte und die von ihm verfassten Schulbücher durch ihren lebensweltlichen und kindgemäßen Bezug besonders geeignet waren. Es überraschten die Kinder nicht nur mit ihren Lernerfolgen, es fiel auch "die Liebe zur Schule" auf und ein überaus friedfertiges Sozialverhalten, das vom Mittelpunkt der Schule auf die ganze Gemeinde Reckahn ausstrahlte. Der Schulmann und Prediger Heinrich Gottlieb Zerrenner berichtete 1788, "seit vielen Jahren ist da kein Prozeß mehr gewesen, und der Gerichtshalter des Herrn von Rochow muß selbst gestehen, daß wenn er nicht sonst in anderen Geschäften von Hrn. v. R. gebraucht würde, derselbe keinen Gerichtshalter nöthig habe".
Rochow hat im Rahmen seines Landschulexperiments überzeugend bewiesen, dass "die Ursachen dieser sämtlichen, den Staat in seinem wichtigsten Teil zerstörenden Übel an der vernachlässigten Erziehung der ländlichen Jugend" liegt, und wo diesem Mangel behoben wird, auch der Sache des Staates gedient ist. Wenn seine Konzeption trotz der grossen öffentlichen Anerkennung dennoch nicht zum Vorbild für die staatliche Schulentwicklung in Preußen wurde, so hatte das seine Gründe. Man mißtraute und fürchtete den Gleichheitsgedanken, wenn Rochow schon 1772 schrieb: "Ich denke doch nicht, dass man den Verstand eines Bauernkindes und seine Seele für Dinge einer anderen Gattung hält als den Verstand und die Seelen der Kinder höherer Stände", weswegen sein Schulplan gültig sei "von der Hütte bis zum Palast". In diesem Ansatz, die Anlagen des Menschen unabhängig von ihrer ständischen Herkunft auszubilden, wurde eine Gefahr für die ständische Ordnung des absolutistischen preußischen Staates gesehen, obwohl es in Reckahn so friedlich wie nirgendwo zuging. Aber würden sich die Untertanen länger der Obrigkeit beugen, "wenn sie erst von allem den Grund einsehen wollten?", schreibt Unterrichtsminister Karl Abraham Freiherr von Zedlitz am 5. Dezember 1776 skeptisch an Rochow. Dahinter steht die Angst, es könnten die unteren Stände aufstehen und nach gesellschaftlicher und politischer Gleichberechtigung verlangen wollen. Zeit seines Lebens muss sich Rochow deshalb mit der Frage auseinandersetzen, "in welche Grenzen der Unterricht für den erwerbenden Stand oder das Volk eingeschränkt werden müsse, damit dieses nicht zu klug werde." Rochow glaubt zwar an Grenzen der Wissenschaft, aber daraus folgt noch keine "Begrenzungsnotwendigkeit des nützlichen Wissens in concreto." Anders als die meisten seiner Standesgenossen, scheint Rochow auch den Gedanken einer möglichen politischen Teilhabe des Volkes nicht gescheut zu haben, wenn er in seinem Kommentar zu Mirabeau schreibt: "Die Menschen sollen sich zu dem bestimmen können, was sie künftig im Staat vorstellen wollen, weil sie durch eine bessere Erziehung Verstand genug bekommen, um ihre eigentliche Tauglichkeit zu prüfen, und sollen über das gemeine Wohl ihre Stimme zu geben verstehen."
Zu Rochows Zeiten war das noch reichlich Utopie, nicht nur in Preußen. Doch für ihn waren es keine Träume, "sondern vielleicht antizipierte Wirklichkeit oder Schilderungen mehr oder weniger entfernter Zeiten, die ich hier niederschrieb."