Januar 1871: Proklamation des deutschen Reiches in Versailles
Am 17. Januar 1871, einen Tag vor der feierlichen Kaiserproklamation, hadert König Wilhelm I. mit dem Schicksal. Trotz der militärischen Siege über Frankreich und der unter Preußens Führung errungenen Reichseinigung klagt der alte Monarch unter Tränen:
“Morgen ist der unglücklichste Tag meines Lebens! Da tragen wir das preußische Königtum zu Grabe.“
Wilhelm sieht in der unausweichlichen Annahme der Kaiserwürde einen Abschied von Preußen. Ihn plagt die tiefe Sorge, sein Königreich werde sich in dem deutschen Staatenbund verlieren. Noch einer seiner Vorgänger, Friedrich Wilhelm IV., lehnte im Jahre 1849 die ihm von der Deutschen Nationalversammlung angetragene erbliche deutsche Kaiserwürde brüsk ab.
Einen Tag später, am 18. Januar 1871, versammeln sich im Spiegelsaal des königlichen Schlosses zu Versailles um die Mittagsstunde mehrere hundert Offiziere der preußischen Armee. Sie stehen dichtgedrängt in dem langen Raum. Als der preußische König Wilhelm I. und der Kronprinz an der Spitze der deutschen Fürsten den Saal betreten, legt sich die Unruhe. Das Schweigen wird durchbrochen, als an dem provisorisch errichteten Altar der Gottesdienst beginnt. In seiner Predigt erinnert der Militäroberpfarrer an die vor 170 Jahren einem brandenburgischen Kurfürsten verliehene Königswürde und lobt dann, wie durch die Tugenden seiner Könige Preußen zu einer Königsmacht erhoben worden sei. Nach dem Schlussgebet und dem Choral “Nun danket allen Gott“ tritt der preußische König Wilhelm I., gefolgt von den Fürsten der deutschen Länder, auf die mit den Fahnen und Standarten aller Paris belagernden Regimenter geschmückte Estrade. Nachdem
König Ludwig II. von Bayern im Namen der deutschen Fürsten Wilhelm I von Preußen zum Kaiser ausgerufen hat, verkündet díeser, er werde die ihm von den deutschen Fürsten und dem deutschen Volk angebotene Kaiserwürde annehmen.
Hofmaler Anton von Werner hält das Ereignis im Auftrag des preußischen Königs mit kräftigen Farben und goldumrankt auf der Leinwand fest: Wilhelm von Hohenzollern, etwas erhöht, mit ernstem Blick die Huldigung entgegennehmend, aber im Mittelpunkt des Bildes, in weißer Uniform, der “Baumeister des Reiches“, Otto von Bismarck.
Heftig umstritten war bis zuletzt der Titel des Kaisers. Sollte Wilhelm „Kaiser der Deutschen“, „Kaiser von Deutschland“ oder „Deutscher Kaiser“ genannt werden? Großherzog Friedrich von Baden umgeht den Streit, indem er spontan einen Hochruf auf „Kaiser Wilhelm“ ausbringt. Als dieser im Saal zum dritten Mal unter Waffengeklirr aufbrandet, dröhnen draußen die Kanonen, die gegen Paris gerichtet sind. Die meisten im Saal sind von dem stolzen Bewusstsein durchdrungen, dass nunmehr - nach 170 Jahren - die Preußen einst zugefallene Aufgabe erfüllt sei, an die Spitze Europas zu treten.
Jedoch schon im Jahr 1872 urteilt der Sozialdemokrat Wilhelm Liebknecht über das neue deutsche Kaiserreich:
„Ein Staat wie das Bismarcksche Preußen-Deutschland ist durch seinen Ursprung mit fatalistischer Notwendigkeit dem gewaltsamen Untergang geweiht... Auf dem Schlachtfeld geboren, das Kind des Staatsstreiches, des Krieges und der Revolution von oben, muß es ruhelos von Staatsstreich zu Staatsstreich, von Krieg zu Krieg eilen und entweder auf dem Schlachtfeld zerbröckeln oder der Revolution von unten erliegen. Das ist Naturgesetz.“
Die Bismarcksche Stabilitätspolitik brachte dennoch 43 Jahre Frieden. Erst nach Bismarcks Entlassung bekam Liebknecht recht.