15. Juli 1920 Berlin wird durch Eingemeindung zu Groß-Berlin
„Endlich ist es erreicht: Der sehnlichste Wunsch der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung des Wirtschaftsgebietes von Groß-Berlin ist in Erfüllung gegangen, die Einheitsgemeinde ist Tatsache geworden! Mit der Hinwegfegung des Wilhelminischen Regiments war die Bahn frei geworden ...“
So begrüßte der 78jährige Alterspräsident und SPD- Politiker Wilhelm Pfannkuch (1841-1923), langjähriges Mitglied des Deutschen Reichstages, auf der ersten Sitzung der neu gewählten Stadtverordnetenversammlung am 15. Juli 1920 die Entstehung von Groß- Berlin.
Die Sozialdemokraten, in der Hauptstadt und im Land Preußen die stärkste politische Kraft, haben noch in den Wirren der Novemberrevolution eines ihrer wichtigen Ziele postuliert - die Bildung von Groß-Berlin. Die Gründe liegen auf der Hand. Die Stadt platzt aus allen Nähten. Die soziale Situation ist in vielen Bereichen katastrophal. Die Menschen leben zu Tausenden unter unwürdigen Bedingungen in Hinterhöfen und Mietskasernen. Die Künstlerin Käthe Kollwitz ritzt das Elend in Linoleum oder zeichnet es auf Papier. Heinrich Zille nennt die Armenviertel der Hauptstadt ironisch-liebevoll „Milljö“. In den Hungerjahren nach dem Krieg ist die Lage besonders katastrophal. Die Armen haben nicht genug zu essen, es fehlt an Kohlen und Holz für die Öfen, die hygienischen Mißstände führen zu Krankheiten und Epidemien. Hunger und Elend locken die bedürftigen Berliner immer wieder vor die Tore der Stadt. Viele fahren zu Hamsterkäufen ins brandenburgische Umland oder sammeln am Stadtrand Brennholz. Bei den märkischen Bauern gibt es selbst in der größten Not etwas zu essen, mag es auch den letzten Groschen kosten.
Berlin, so meinen fortschrittliche Politiker, müsse sich Platz schaffen. Neuer Stadtraum soll die engen Wohnquartiere auflockern, eine gemeinsame Verwaltung die Kräfte für dringendeste Aufgaben bündeln. So braucht die Stadt eine modernere Infrastruktur: neue Straßen- und Bahnverbindungen, eine bessere Strom- und Energieversorgung. Es entsteht der ehrgeizige Plan, die umliegenden Städte und Dörfer mit Berlin zu einer riesigen Stadtgemeinde zusammenzuschließen. Die brandenburgischen Orte ringsum verfügen über freie Flächen für den Bau neuer Siedlungen, und sie haben vor allem finanzkräftige Steuerzahler. Denn in den Randgemeinden um die Hauptstadt wohnen in der Regel die Unternehmer und Kaufleute, die mit der Maloche der Berliner Arbeiter ihr Geld verdienen. Eine moderne Stadt und eine gerechtere Verteilung des Steueraufkommens, das ist die politische Absicht, die hinter der Reform steht.
Im April 1920 beschließt die preußische Landesversammlung mit den Stimmen von Sozialdemokraten und Liberalen das „Gesetz über die Bildung einer neuen Stadtgemeinde Berlin“, das im Oktober in Kraft tritt. Berlin umfaßt nun acht Städte, 59 Landgemeinden, 27 Gutsbezirke mit insgesamt fast vier Millionen Einwohnern auf einer Fläche von rund 900 Quadratkilometern.